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Wo die Dichter sich schlagen

Poetry-Slam hat sich auch in Deutschland als eigene Kunstform etabliert. Manche können davon leben.

F.A.Z.

3.03.2022

Loreen Sancar

Landgraf-Ludwigs-Gymnasium, Gießen

Der  ehemalige Bauarbeiter Marc Kelly Smith soll im Jahr 1986 im Jazz-Club „The Green Mill“ in Chicago Poe­ry-Slam erfunden haben. Er suchte nach einer lebhaften Alternative zur  herkömmlichen Wasserglaslesung, bei der ein Autor aus seinem Buch vorliest. Kelly organisierte  eine Show, in der  geladene Gäste und Personen aus dem Publikum sich offen mit der neuen Literatur ausein­andersetzten. Diese Offenheit ist bis heute  ein wesentlicher Bestandteil des Poetry-Slams. Er zeichnet sich zudem dadurch aus, dass es unwichtig ist, aus welcher sozialen Schicht die Teilnehmer  kommen. 

In Deutschland  wurde der  Begriff „Poetry-Slam“ erstmals 1994 auf einer Berliner Veranstaltung verwendet. Ähnliche Formate gab es  hierzulande schon seit 1986.   Im Oktober 1997 fand die erste deutschsprachige Meisterschaft in Berlin statt.  Weitere Bekanntheit erlangte Poetry-Slam  2008 durch die Fernsehshow „Slam Tour mit Kuttner“.  Einen Schub erhielt  Poetry-Slam Anfang 2014: Ein Video  der Slammerin, Dichterin und Musikerin Julia Engelmann     wurde in zwei Wochen rund 5 Millionen  Mal auf Youtube geklickt – und bis heute fast 14 Millionen Mal. Auf ihm ist ein Auftritt   2013 beim „Bielefelder Hörsaal-Slam“  zu sehen:  Engelmann, die inzwischen Bestsellerautorin ist,  trägt ihr Gedicht „Eines Tages, Baby“ vor. Mittlerweile gibt es fast überall in Deutschland Poetry-Slammer. Trotz eines mäßigen Auftakts ist die deutsche Poetry-Slam-Szene  nun eine der größten der Welt und wurde 2016 in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO  aufgenommen, als „selbständige künstlerische Form mit eigener Ästhetik“.

 Beim Poetry-Slam werden selbst geschriebene Texte ohne Requisiten vorgetragen. Die  Texte haben keine Grenzen  und enthalten oft eine Auseinandersetzung mit sich selbst.   „Es ist  ein wenig mein künstlerisches Zuhause“, sagt Sebastian 23 alias Sebastian Rabsahl. Für ihn ist Poetry-Slam zudem „die Plattform, auf der ich meine Kunst des gesprochenen Wortes entwickelt habe“. Rabsahl, 42 Jahre alt, ist einer der berühmtesten Slammer Deutschlands  und unter anderem Vizeweltmeister der Slam-Weltmeisterschaften in Paris 2008. Zu seinem Berufsalltag gehören auch Auftritte auf  Firmenveranstaltungen und  Auftragstexte für Unternehmen.

 Sponsoren hat er nicht, das gilt auch für  Lars Ruppel.    „Ich hätte sowas gerne“, sagt Ruppel, der einer der erfolgreichsten Slammer Deutschlands ist und Preise wie den Team-Wettbewerb 2007 und die Poetry-Slam-Meisterschaft 2014 im Einzelwettbewerb gewonnen hat. 2001, mit gerade einmal 16 Jahren, begann  Ruppel, der im hessischen Gambach geboren wurde, durch einen Freund mit Poetry-Slam.  „Sie waren auch froh, dass ich etwas hatte, was ich gerne machte“, sagt Ruppel über seine Eltern. Er  hatte  ihre volle Unterstützung, was für einen jungen Künstler wichtig ist.

Beide Slammer machen Poetry-Slam hauptberuflich, jedoch auf unterschiedliche  Weise. Während Sebastian 23 international  auf Deutsch und Englisch auftritt, konzentriert  sich Ruppel auf Deutschland, Österreich und die Schweiz, wobei  er auf Deutsch, Englisch, Französisch und in Gebärdensprache kommuniziert.   Ruppel tritt mittlerweile auch als Poetic Recorder auf. Das bedeutet, dass er auf eine  Veranstaltung geht, während des Zuhörens ein Gedicht verfasst und dieses  zum Schluss vorträgt. 

„Die Szene war bis vor einigen Jahren viel kleiner“, sagt Rabsahl. Er und Ruppel können nach eigenen Angaben vom  Poe­try-Slam leben. „Ich habe schon zwischen 5 und 5000 Euro alles erhalten“, berichtet Ruppel über seine Gagen. „Ich trete auch für 50 Euro auf, wenn ich in der Nähe bin.“ So variiert das   Monatsgehalt.  „Wenn man zum Beispiel bei einer großen Firmenveranstaltung auftritt oder bei einem offiziellen Fest des Bundespräsidenten, wird man natürlich anders bezahlt als bei einem kleinen Slam in einer Kellerkneipe. Dort gibt es oft nur Fahrtkosten“, sagt Sebastian 23.

Seine Auftrittsanzahl habe sich mit seinen Kindern verändert, sagt Ruppel. „In guten Jahren, in denen ich noch keine Kinder hatte, waren es so 200, 250 im Jahr. Und jetzt sind es ungefähr zwei in der Woche.“ Sebastian 23 hat laut Eva Koelle von  der Künstleragentur Slam Events 160 Auftritte im Jahr. Nicht auf sich selbst bezogen sagt Ruppel, dass ein Poetry-Slammer ein Jahreseinkommen von 20 000 bis 30 000  Euro  hat. Das Corona-Jahr 2020 brachte manche an  Grenzen. Rabsahl und  Ruppel konnten zwar viele  Auftritte digital weiterführen; dennoch wurden auch sie von  Ängsten geplagt. Für viele  Kollegen sei die Lage existenzbedrohend  gewesen.

Auftritte und Workshops an  Schulen und Hochschulen  gehören ebenfalls  zum Geschäft.  Am Landgraf-Ludwigs-Gymnasium in Gießen werden jedes Jahr  Workshops für 6 Euro je Person angeboten, um die Schüler für die Kunstform Poetry-Slam zu motivieren, wie  Deutschlehrerin Silke Flemming sagt.   „Ein Slammer kann  vielleicht mehr Begeisterung wecken, als es der Deutschlehrer kann.“ Poetry-Slam wird in den Deutschbüchern nicht behandelt, was laut  Flemming daran liegen könnte, dass es „vielleicht noch zu neu oder zu sehr auf Live-Kunst ausgerichtet“ sei.

Sie   hätte nichts gegen einen Unterrichtsexkurs in das Thema Poetry-Slam.  An dieser Kunst faszinieren sie die oft tollen Texte, die mit einer guten Performance vorgetragen würden. Aufseiten der Schüler ist das Interesse an Poetry-Slam im Unterricht groß.  Sie  wünschen sich, durch das Schreiben von Slams freier zu werden und mehr mit den  Mitschülern zu interagieren. Nach einem Auftritt Lars Ruppels sagt Katrin  Nessel aus der 11. Klasse: „Ich glaube, es würde vielen helfen,  Selbstbewusstsein  aufzubauen.“ Ein Mitschüler fand bemerkenswert, auf welche Art Gedichte vorgetragen wurden. „Die findet die Jugend normalerweise nicht so interessant.“

Zur Veröffentlichung in der F.A.Z.

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