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Was das Herz begehrt

In der Kleinstadt Hechingen gibt es außergewöhnlich viele Medizintechnik-Unternehmen. Der Schwerpunkt sind minimalinvasive Techniken.

F.A.Z.

17.12.2021

Michelle Fabienne Holderied

Kaufmännische Schule, Hechingen

Dass es so etwas wie minimalinvasive Herzklappen einmal geben würde, hätte ich vor 20 Jahren nie für möglich gehalten. Damals hatte ich die Gelegenheit, bei vielen Herzklappenoperationen dabei zu sein, die sich mehrere Stunden hinzogen. Heutzutage geht das  zack, zack, und dem Patienten wird nicht der ganze Brustkorb aufgetrennt.“ Das sagt Sebastian Büchert, Geschäftsführer der Bentley Innomed GmbH, eines von vielen Medizintechnikunternehmen in Hechingen, das südwestlich von Stuttgart liegt und knapp 20 000 Einwohner hat.

Mittlerweile dauerten solche Eingriffe eine halbe Stunde, berichtet Büchert. Man  fährt mit dem Katheter in einem kleinen Röhrchen bis ins Herz, bringt eine zusammengefaltete Herzklappe  an die gewünschte Stelle und sprengt sie dann auseinander. Nun könnten auch Menschen im Alter von 90 Jahren ohne schwere Folgen operiert werden.  Ein Restrisiko könne man freilich nicht ausschließen, weil es beispielsweise zu einem Schlaganfall kommen könne.

Eine solche Operation könne ganz einfach erledigt werden, während das Herz noch schlägt, und der Patient spüre keine Schmerzen, ergänzt Heiko Zimmermann, Geschäftsführer von Medical Valley Hechingen e.V. Dieser   Verein entstand 2009. Rund 50 Medizintechnik-Unternehmen  sind Mitglieder; sie beschäftigen insgesamt etwa 5000 Mitarbeiter.

„Es gibt hier keine zwei Unternehmen, die das gleiche Produkt herstellen. Einzigartig bei uns ist die Konzentration auf die minimalinvasive Behandlung von Herz- und Gefäßerkrankungen“, berichtet Zimmermann. Vertreten  sind unter anderem Stents, Dialysetechniken, Herzklappen und Drainagen über Magnetfeldtherapie.  Seit Kurzem sind auch Unternehmen Mitglied, die für  die Ohrenheilkunde zuständig sind. 

Vor allem Bentley beschäftigt sich mit der Entwicklung von minimalinvasiven „Stentcrafts“, einem Metallgeflecht zur Behebung von Gefäßleiden. Sie produzieren nach eigenen Angaben etwa  40 000 Stents im Jahr, die in 80 Ländern verkauft werden. Damit erzielt man laut Büchert einen Jahresumsatz von 42 Millionen Euro. In Hechingen haben sich noch mehr  Medizintechnik-Hersteller angesiedelt, etwa  Jotec, ein Produzent von Gefäßimplantaten für die Aorta mit rund 500 Mitarbeitern, und Gambro Dialysatoren,  eine  Niederlassung  des amerikanischen Konzerns   Baxter.

Früher war Hechingen, wie Zimmermann erzählt, eine Textilhochburg. Doch  die Branche  ging ins Ausland, man suchte nach einem neuen Feld.  Im Jahr 2003 gründete die Stadt ein Kompetenznetzwerk, um den medizinischen Schwerpunkt in Hechingen bekannt zu machen.  Schon damals gab es Medizintechnikunternehmen in Hechingen, eines der ersten war Gambro.  Lars Sunnanväder trug zu der Vermehrung der Medizintechnik-Unternehmen viel bei. Er war  technischer Leiter von Gambro, bevor er sich  ­selbständig  machte. Das führte zur Gründung von mehr als 15 Unternehmen, etwa  Joline, Jotec, Translumina, NVT und Bentley.

Zu den Aufgaben von Medical Valley gehören der Austausch und  die Vermittlung von Wissen, man veranstaltet Seminare und Praktikumsbörsen. Auch Medira ist Mitglied. Thomas Bogenschütz hat das Start-up  2020 gegründet.  Der Hechinger war zuvor Geschäftsführer von Jotec und NVT. Als das amerikanische Unternehmen Cryolife 2017 für 225 Millionen Dollar Jotec übernahm, war Bogenschütz  Senior Vice President.  „Es war das Gefühl, etwas Gutes für andere zu tun, das mich zur Medizintechnik brachte“, erzählt er. „Zum anderen war es  auch die Faszination zu sehen, was mit moderner Medizin alles möglich ist.“

Medira entwickelt Herzklappen.   Der Preis einer  Klappe  liegt bei 30 000 Euro. Normalerweise werden zur Herstellung  synthetische Materialien wie Polyester, Teflon und eine Metalllegierung verwendet.  Medira und auch NVT stellen ihre Produkte aus Biomaterialien her. „Hier werden Rinder- oder Schweineherzbeutel verwendet, die man als Rohmaterial aus der Fleischindustrie bekommt“, erklärt Bogenschütz.

Auf die Frage, in welche Richtung sich die Medizintechnik in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird, sind sich Büchert und Bogenschütz einig. Es werde eine starke Bewegung hin zu minimalinvasiven Technologien geben – damit sich die Patienten  schnell wieder erholen und unerwünschte Nebeneffekte verhindert werden.

 

Zur Veröffentlichung in der F.A.Z.

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