Bedächtig gleiten fünfzehn Haie durch das Salzwasser. „Bist du bereit, Michael?“, ruft Canberk Üstündağ, Geschäftsführer und Gründer der Münchner Tauchschule High-Life-Divers. Nach einem abermaligen Sicherheitscheck der Ausrüstung geben sich Gasttaucher Michael Pellkofer und er ein Zeichen, bevor sie in das „Ocean-Becken“ des Sea Life München hinabtauchen.
Im Jahr 2006 begann die Kooperation des Sea Life mit der Tauchschule, die sich zu einer einmaligen Attraktion in Deutschland entwickelt hat. Die Tauchschule kümmerte sich ohnehin um die Pflege des Beckens und der Tiere. Außenstehende Taucher bekamen nun die Gelegenheit, mit hinunterzutauchen, um die faszinierenden Tiere aus nächster Nähe bestaunen zu können. Angeboten wird das jeden Samstag und Sonntag zwischen 11 und 12 Uhr. Zu besonderen Anlässen verkleiden sich die Taucher als Osterhase, Weihnachtsmann oder Skelett, um den jungen Besuchern des Sea Life eine Freude zu bereiten.
Getaucht wird laut Geschäftsführer das ganze Jahr über, weil die Tiere versorgt werden müssen. Gäste sind bei etwa einem Drittel der Tauchgänge dabei. „Unser Umsatz mit dem Haitauchen liegt jährlich im vierstelligen Bereich“, berichtet Üstündağ. Von dem Geld müssen auch die Wartung des Kompressors, der Lohn der Taucher und andere Kosten gedeckt werden.
Haitauchgänge in freier Wildbahn werden vorzugsweise in Orten wie Kapstadt und rund um die Küste Australiens angeboten. Für Erlebnisse solcher Art müssen je Tauchgang und Taucher Beträge im niedrigen vierstelligen Bereich eingeplant werden. „Dahingegen sind unsere einstündigen Tauchgänge für 159 Euro vergleichsweise günstig“, sagt Üstündağ. „Da uns das Wohl der Tiere am Herzen liegt, wähle ich die Taucher sehr genau aus“, erläutert er. „Meldet sich ein Taucher an, rufe ich ihn persönlich an und prüfe, ob er geeignet ist.“ Bewerber sollten mindestens 30, am besten aber rund 100 Tauchgänge nachweisen können und sich gezielt und feinmotorisch bewegen können.
Die beiden Gründer Canberk Üstündağ und Anton Ennerst lernten sich in einer Tauchschule kennen. „Wir hatten die gleiche Leidenschaft und waren beide Tauchlehrer, weshalb wir unsere eigene Tauchschule gründen konnten“, berichtet Üstündağ. Neben der Tauchschule ist er als Wirtschaftsinformatiker tätig, und Ennerst arbeitet im öffentlichen Dienst. Da Üstündağ im Sea Life hin und wieder als Techniker tätig war, übernahm die neugegründete Tauchschule der beiden die Aufgabe, die Becken zu pflegen. „Uns hat es von Beginn an Spaß gemacht, mit diesen einzigartigen Tieren zu tauchen“, erzählt Üstündağ.
Das Ocean-Becken ist das einzige Becken, in dem getaucht wird. In den anderen 39 Becken werden die Taucher für Reparatur- und Dekorationsarbeiten eingesetzt. Müssen die Becken gereinigt werden, wird einfach das Wasser abgelassen. Dies ist im Ocean-Becken mit seinen 400 000 Litern, einer Grundfläche von 100 Quadratmetern und einer Tiefe von 5,60 Metern nicht möglich.
Während der Arbeit werden die Taucher von Schwarz- und Weißspitzenriffhaien, Grauen Riffhaien, Ammenhaien, Teppichhaien, Bambushaien und den beiden etwa 2,50 Meter langen Zebrahaien Pünktchen und Antonia sowie etwa 2000 kleinen Fischen beobachtet, wie Bernhard Warras, ebenfalls Taucher bei High-Life-Divers, erzählt. „In Gefangenschaft können manche Haiarten bis zu 40 Jahre alt werden“, gibt Warras an. „Aus diesem Grund sterben die Tiere meist an Altersschwäche oder zeigen demente Verhaltensweisen und sterben aus Gründen, die wir nicht kennen.“ Gegenseitig fressen würden sich die Tiere nicht, es sei denn, ein Fisch sei krank oder verletzt. Tagsüber scheinen sich hinter dem konvexgekrümmten Glas alle gut zu verstehen. Haie sind laut Warras Nachtjäger, weshalb der ein oder andere geschwächte Fisch sein Leben im Schutz der Dunkelheit und nicht unter den Blicken der Besucher lässt.
„Wir hatten auch mal eine Schildkröte namens Gonzalo, die immer mit uns Tauchern kuscheln wollte“, sagt Warras. „Leider war sie mit 1,20 Meter Größe und rund 150 Kilogramm Gewicht zu groß für das Becken, weshalb sie nun im Sea Life in London lebt.“ Solche Tauschaktionen seien nicht ungewöhnlich. Jedes Sea Life habe sich auf ein oder zwei Tierarten spezialisiert, das Sea Life München beispielsweise auf Seepferdchen und Haie. Damit weniger Tiere aus Wildfang bezogen werden müssen, können die Sea Lifes Tiere züchten und untereinander austauschen.
Nachdem Sea Life vor einigen Jahren einen Zoo in Schanghai gekauft hatte, wollte es den beiden Schweinswalen Little Grey und Little White sogar ein Leben in Freiheit ermöglichen. Laut Üstündağ flog man die beiden mit großem logistischem Aufwand in eine extra angemietete Bucht nach Island. Ganz freigelassen werden konnten sie allerdings nicht, da sie ihr Leben lang in Gefangenschaft waren und daher im offenen Meer nicht überlebensfähig gewesen wären. Daher kümmern sich seither die dort zuständigen Kuratoren um das Füttern und die Pflege, während die beiden Wale durch den abgegrenzten Ozean schwimmen.
Da das Wohl der Tiere für die Taucher von High-Life-Divers an erster Stelle steht, gibt es für Gasttaucher klare Regeln. So dürfen sie weder etwas anfassen noch ihre Hände aus dem eigenen Blickfeld entfernen. Warras zufolge könne es nämlich passieren, dass die Hand des Tauchers zuvor mit Futter in Verbindung gekommen sei und der Hai dies im Vorbeischwimmen riecht – folglich probieren möchte. Zudem dürfe ein Taucher niemals aus der Hand füttern. Gefüttert werde stets mit einer Futterzange, denn Haie agierten schneller, als Menschen reagieren könnten.
Ein Unfall dieser Art ist Warras zufolge schon einmal vorgekommen. Ein Gast habe dem Profitaucher unbemerkt Futter aus der Tasche gezogen und einem Hai vor die Nase gehalten, der seinen Gewohnheiten folgte und nach dem Futter schnappte. Wegen der fehlenden Futterzange landeten die Zähne mit einer Kraft von 800 Kilogramm, also etwa dem Zehnfachen der menschlichen Zubeißkraft, in der Hand des Tauchers. „Es handelte sich um einen kleinen Hai, weshalb der Taucher mit ungefähr zwanzig kleinen Stichen davongekommen wäre, hätten nicht seine menschlichen Reflexe eingesetzt“, sagt Warras. „Durch das Wegziehen entstanden dann erst die richtigen Wunden.“ Dem Taucher sei vorher alles erklärt worden.
„Die Vorurteile gegenüber Haien sind gewaltig. Wir wollen zeigen, dass vieles nur Gerüchte und Mythen sind“, erklärt Üstündağ. „Ich könnte in diesem Becken bluten wie ein geschlachtetes Tier, und es würde keinen der Haie interessieren. Im Menschenblut ist ein Protein enthalten, welches Haie nicht mögen, weshalb wir Menschen nicht auf ihrer Speisekarte stehen.“ Außerdem machten Haie zunächst immer einen Testbiss. „Der Testbiss von kleineren Haien ist vergleichbar mit einem Hundebiss.“
Das Umarmen und Tätscheln von Wildtieren ist von der Natur nicht vorgesehen“, sagt Sandra Altherr, Biologin und Mitbegründerin der Organisation Pro Wildlife. „Es ist Teil eines Trends, bei dem Wildtiere mehr und mehr zur Freizeitbespaßung dienen.“ Dennoch handelt es sich in ihren Augen auf keinen Fall um Tierquälerei, sondern mehr um Faktoren, die zusammengefügt ein falsches Bild abgäben. „Ich bin auch gegen Candle-Light-Dinner im Elefantengehege, da so etwas nichts mit professioneller Wildtierhaltung zu tun hat.“
Die Gasttaucher sind laut Üstündağ zwischen 25 und 70 Jahre alt, und es tauchten genauso viele Frauen wie Männer. Während der Corona-Pandemie kamen zwar keine Gäste, getaucht werden musste aber trotzdem. Haie haben durch die Lorenzinischen Ampullen unterhalb ihres Kopfes einen sogenannten sechsten Sinn, mit dem sie elektromagnetische Wellen wahrnehmen können und die Taucher so identifizieren. Sei ein Taucher aufgeregt und der Herzschlag beschleunigt, traut sich der Hai laut Üstündağ nicht näher heran. „Das Putzen beruhigt die Taucher und lenkt sie ab“, erklärt er, „So ist es sozusagen eine Win-Win-Situation, da wir das Becken reinigen und sich Taucher und Tier einander annähern.“
Kaum beginnt Gasttaucher Michael Pellkofer die Glasscheiben zu säubern, nähern sich die ersten Haie. Als kleines Leckerli nehmen die Taucher immer etwas Fisch und Obst oder Gemüse mit. „Die kleinen Fische haben kräftig an dem Salat gezupft“, erzählt Pellkofer. „Man ahnt gar nicht, wie viel Kraft in den Tieren steckt.“
„Man darf nie vergessen, dass Haie Wildtiere sind“, mahnt Üstündağ, und trotzdem hat er es geschafft, eine Art Verbindung mit den Haien aufzubauen. „Antonia ist unser Kuschelhai“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. „Aber wenn sie nicht gut gelaunt ist oder nicht will, dass ich sie in den Arm nehme, dann muss ich sie loslassen.“
Wenn die Taucher fertig mit den Arbeiten sind, wird ein Erinnerungsfoto geschossen, wenn sie mitspielen auch mit Hai im Arm. Pellkofer hat Glück. „Mein Highlight war, wie ich dieses 2,10 Meter große Tier im Arm halten konnte und es sich völlig auf mich eingelassen hat. Die Haut fühlt sich so rau an wie Dachpappe.“