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Sizilianisch kommt vielen spanisch vor

Der größte Schachhändler Europas sitzt in Münster und hat von Netflix profitiert

F.A.Z.

3.02.2022

Tristan Paul Husung

Albert-Einstein-Gymnasium, Frankenthal

Als mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft 1946 zurückkehrte, musste er seinem sechsjährigen Jungen erst mal Schach beibringen“, berichtet der 81 Jahre alte Peter Thierfelder, der seit mehr als 70 Jahren  für den SK Freinsheim Schach spielt und sein Wissen an viele  weitergegeben hat. Die  Faszination für Schach teilt Christoph Kamp, der Inhaber von Schach Niggemann. Er sei als Jugendlicher mit dem „Schachvirus“ infiziert worden, sagt er. Schach Niggemann ist nach Kamps Angaben  der größte Schachhändler in Europa.  Man gehöre mit einem siebenstelligen Umsatz  zur Weltspitze in dieser Branche.

Schach Niggemann wurde 1985  in Köln von Erika und Günter Niggemann gegründet. Über die Jahre vergrößerte sich das Sortiment, der Standort wechselte.  Christoph und Silvia Kamp übernahmen 2018  das Geschäft und verlegten es 2019  nach Münster, wo für das wachsende Onlinegeschäft Platz für Lager, Versand und Verkauf geschaffen werden konnte. In Münster öffnet sich dem Schachfreund ein Paradies: nicht auf 64 Feldern, sondern auf mehr als 100 Regalmetern. Man findet Schachwegweiser für Veranstaltungen  für 2 Euro  genauso wie ein handgefertigtes Schachbrett mit eingebautem, bluetoothfähigem Schachcomputer für 3690 Euro. Solch ein E-Board liege trotz des hohen Preises gerade  im Trend, berichtet  Kamp. Dank der Bluetooth-Funktion könne man digital mit anderen spielen, man habe aber dennoch  ein echtes Brett vor sich. Der Preis ist hoch, aber nichts gegen den Wert des  teuersten Schachbretts der Welt, des „Jewel Royale Schachspiels“; es  kostet knapp 1,25 Millionen  Euro.

Insgesamt bietet Schach Niggemann rund 6000 Artikel an und hat  35 000 Bücher auf Lager. Wer meint, in Zeiten des Internets brauche es keine  Bücher aus Papier mehr,  irrt.  Kamp beobachtet  eher eine umgekehrte Entwicklung: Es gebe immer mehr sehr gute Fachliteratur mit Inhalten, die nicht einfach im Internet zu finden seien.

 In Deutschland gibt es 2330  Vereine mit fast 90 000  Mitgliedern. Bretter und Figuren aus Plastik seien  die beliebtesten Produkte, von denen Schach Niggemann Abertausende verkaufe, besonders an Schulen und Vereine, berichtet Kamp. Aufgrund der stark gestiegenen Holzpreise kostet  ein Standard-Figurensatz aus Holz nicht mehr 30, sondern 50 Euro.  Es sei „inzwischen schwierig, noch an große Mengen Holzprodukte zu kommen“, sagt Kamp, dessen Favorit fürs Schachbrett Palisanderholz ist. Laut Inhaber hat man  75 000 Kunden; sie seien zwischen  5 und 95 Jahre alt und fast alle männlich.

Man lege viel Wert auf die Schachkompetenz der sieben festangestellten Mitarbeiter, sagt der Inhaber. Sie müssten mindestens Turnierspieler sein. Ein Mitarbeiter trägt sogar den Titel „FIDE-Meister“, den dritthöchsten Titel, den man auf der ganzen Welt  im Schach erspielen kann. Die schachmännische Beratung hebt das Unternehmen von  bekannten Onlinehändlern ab. „Taimanow-Sizilianisch (eine Variante einer Schacheröffnung) soll man erst mal in Amazon eingeben!“, sagt Kamp.

Der Laden in Münster erziele zwar nur 1 bis 2 Prozent  des Umsatzes, sagt Kamp, er sei aber als Ausstellungsraum wichtig. So reise mancher vor einer größeren Investition  mehrere Hundert Kilometer an, um sich vor Ort ein Bild  zu machen. 

Im vergangenen Jahr  haben  die Netflix-Serie „Das Damengambit“ und die Pandemie einen Schachboom ausgelöst.   Schach war plötzlich nicht mehr nur ein Spiel für Rentner oder Nerds, viele  wollten ein schickes Schachbrett und eine  längst veraltete hölzerne mechanische Schachuhr haben. Die Nachfrage  nach diesen Uhren sei aber wieder zurückgegangen und digitale Uhren seien wieder die  Spitzenreiter, teilt Kamp mit.

Der große Hype ist   abgeflaut, jedoch hat sich das Geschäft auf einem Niveau gehalten, das die Vor-Netflix-Ära übertrifft. Der Umsatz sei in den vergangenen eineinhalb Jahren um 15 bis 20 Prozent  gestiegen.   Das Weihnachtsgeschäft 2021 sei auch durch die Schach-WM  in Dubai trotz eines eher weniger spannenden Verlaufs ordentlich belebt worden.  Einem der Hauptkunden des Händlers, dem Deutschen Schachbund, den eine Partnerschaft mit Schach Niggemann verbindet,  hat die Ansehenssteigerung dagegen nicht geholfen. Die  Mitglieder- und Vereinszahlen sind leicht gesunken. 

Die Zahl der Vereine ist von rund  3000  im Jahr 2000 auf  2330  im Jahr 2021 zurückgegangen. Auch Christoph Kamps Verein, der  SK Münster 32, muss sparen, er kauft beispielsweise nur noch   Spielausstattungen aus Plastik. Es mangelt vielen Vereinen zudem an Nachwuchs.  Gab es 2020 noch 26 742 jugendliche Mitglieder, sank die Zahl auf nur noch 24 499 im Jahr 2021.

Ist die Pandemie für Schach Niggemann eher verkaufsfördernd, so zeigt sich für das Vereinswesen  ein Nachteil: Durch die zeitweise Aussetzung der Treffen im Schachverein und die nicht stattgefundenen Schach-AGs in den Schulen konnten nicht so viele   Neumitglieder an das Schachspiel herangeführt werden.  DSB-Präsident Ullrich Krause sagt aber: „Das Online-Schach hat einen großen Zuwachs verzeichnet, und die Vereine, die sich in diesem Bereich aktiv engagiert haben, haben auch Mitgliederzuwächse zu verzeichnen.“

 

Zur Veröffentlichung in der F.A.Z.

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