In Deutschland sind laut dem Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien rund 100 000 Menschen von Kleinwuchs betroffen. Damit sie nicht auf eine beliebte Freizeit- und Fitnessaktivität verzichten müssen, hat Juliane Neuß die Junik-hpv GmbH gegründet, in der nur sie arbeitet. Sie verkauft als eine der wenigen individuell angefertigte Fahr-, Lauf- und Dreiräder für Kleinwüchsige. In den vergangenen vier Jahren hat sie mehr als 100 solche Räder gebaut. Von der Krankenkasse werden diese Fahrzeuge oft nicht als Hilfsmittel anerkannt. Ob eine Unterstützung geleistet werde, komme auf die Situation des eingeschränkten Menschen und nicht zuletzt auf den zuständigen Sachbearbeiter an, sagt Neuß.
In ihrer niedersächsischen Heimatstadt Clausthal-Zellerfeld betreibt die fast Sechzigjährige nun seit mehr als vier Jahren ihre barrierefreie Fahrradschmiede 2.0. Nach dem Realschulabschluss absolvierte Neuß eine Ausbildung zur Metallographin. 1996 übernahm sie die Leitung eines ZEG-Fahrradladens in Hamburg. Ihr Wunsch nach einer uneingeschränkten Mobilität für alle führte 2011 zu ihrem, sich in der dritten Auflage befindenden, Buch „Richtig sitzen – locker Rad fahren“, in dem sie Ergonomietheorien zusammenfasst.
Anfang der Neunzigerjahre verwirklichte Neuß mit dem mitwachsenden Kinderfahrrad „Skippy“ ihr erstes eigenes Projekt. 1998 folgte dann ihre umgebaute Version des Brompton, eines faltbaren Fahrrads aus England. „Man stellt es sich immer so schwierig vor, irgendetwas Neues zu machen, zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, aber bei diesen beiden Sachen fiel es mir so leicht, dass ich gesagt habe, im Fahrradbereich kann man noch eine Menge bewegen“, sagt sie. Beim Besuch einer Veranstaltung für kleinwüchsige Menschen merkte sie, dass diese Menschen besondere Räder brauchten. „Sonst denkt man immer, sie können auch Kinderräder nehmen.“ Diese seien aber nicht nur in den meisten Fällen wegen ihres eher albernen Designs unpassend, sondern auch ergonomisch nicht mit der Physiognomie eines Kleinwüchsigen kompatibel.
„Eine Zeit lang bin ich mit einem Standard-Kindermountainbike von Stevens gefahren, habe dann aber ganz erhebliche Rückenschmerzen bekommen“, erzählt die 126 Zentimeter große Birgit Waßmann aus Erlangen. Die Sechsundfünfzigjährige besitzt vier von Neuß gefertigte Fahrräder. Für ihr erstes maßgeschneidertes Fahrrad, ein mattschwarzes 20-Zoll-Sportrad, bezahlte Waßmann knapp 3000 Euro.
Da laut dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte 450 verschiedene Formen von Kleinwüchsigkeit unterschieden würden, seien die Maße und der Aufbau ihrer Fahrräder nicht pauschal benennbar, erklärt Neuß. „Eines meiner Alleinstellungsmerkmale ist, dass ich die Kurbellängen wirklich für jede Person extra anpasse.“ Kunden von weiter weg zu bedienen ist für sie kein Problem. „Ich habe ein recht einfaches Messprotokoll, was ausgefüllt werden kann. Damit habe ich auch schon Kunden aus Österreich und der Schweiz bedient, die ich noch nie gesehen habe.“
Eine große Rolle spielen für Neuß nicht die Längen der Körperteile, sondern die Winkel, die aus ihnen resultieren. „Wenn die Winkel eingehalten werden, entstehen aus denen die drei Kontaktpunkte Lenker, Sattel und Pedale quasi von selbst.“ Nach dem Entstehen der Skizze lässt sie die Fahrradrahmen bauen und setzt sie selbst zusammen. Der Produktionsprozess dauert vier bis sechs Wochen. „Mit allem Drum und Dran bin ich fast immer, egal wie groß das Rad ist, bei knapp 3000 Euro.“
Mit einem Monatsumsatz von 15 000 Euro im Jahr 2020 konnte Neuß im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 50 Prozent verzeichnen – dank der Lockdowns in der Corona-Pandemie. Für 2021 fällt ihre Prognose etwas schlechter aus. Für dieses Jahr plant Neuß ein Tandem, das sie auf den „World Dwarf Games“, dem weltgrößten Sportevent für Kleinwüchsige, präsentieren möchte.