Spannende Inhalte finden

Nur ein kleines Rädchen im Getriebe

Juliane Neuß stellt Spezialfahrräder her, damit kleinwüchsige Menschen nicht mit Kinderrädern fahren müssen.

F.A.Z.

5.05.2022

Ronja Rabea Schlicht

Landgraf-Ludwigs-Gymnasium, Gießen

In  Deutschland sind laut dem Bundesverband  Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien rund  100 000 Menschen von Kleinwuchs betroffen.  Damit sie nicht  auf eine beliebte Freizeit- und Fitnessaktivität verzichten müssen, hat  Juliane Neuß die  Junik-hpv GmbH gegründet, in der nur sie arbeitet. Sie verkauft als eine der wenigen  individuell angefertigte Fahr-, Lauf- und Dreiräder für  Kleinwüchsige.     In den vergangenen  vier Jahren hat sie mehr als  100 solche Räder  gebaut. Von der Krankenkasse werden diese Fahrzeuge oft nicht als Hilfsmittel  anerkannt.     Ob eine  Unterstützung geleistet werde, komme   auf die Situation des eingeschränkten Menschen und nicht zuletzt auf den zuständigen Sachbearbeiter an, sagt   Neuß.

In ihrer niedersächsischen Heimatstadt Clausthal-Zellerfeld betreibt die fast Sechzigjährige nun seit mehr als vier Jahren ihre  barrierefreie Fahrradschmiede 2.0.   Nach dem Realschulabschluss absolvierte   Neuß  eine Ausbildung zur Metallographin.     1996 übernahm sie die Leitung eines ZEG-Fahrradladens in Hamburg. Ihr Wunsch nach einer uneingeschränkten Mobilität für alle führte 2011 zu ihrem, sich in der dritten Auflage befindenden, Buch „Richtig sitzen – locker Rad fahren“, in dem sie  Ergonomietheorien zusammenfasst.

Anfang der Neunzigerjahre verwirklichte  Neuß  mit dem mitwachsenden Kinderfahrrad „Skippy“ ihr erstes eigenes Projekt.   1998 folgte dann ihre umgebaute Version des Brompton, eines faltbaren Fahrrads aus England. „Man stellt es sich immer so schwierig vor, irgendetwas Neues zu machen, zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, aber bei diesen beiden Sachen fiel es mir so leicht, dass ich gesagt habe, im Fahrradbereich kann man noch eine Menge bewegen“, sagt  sie. Beim Besuch  einer  Veranstaltung  für kleinwüchsige Menschen merkte sie, dass diese Menschen besondere Räder brauchten. „Sonst denkt man immer,  sie können auch Kinderräder nehmen.“ Diese seien aber nicht nur in den meisten Fällen wegen ihres eher albernen Designs unpassend, sondern auch ergonomisch nicht mit der Physiognomie eines Kleinwüchsigen kompatibel.

„Eine Zeit lang bin ich mit einem Standard-Kindermountainbike von Stevens gefahren, habe dann aber ganz erhebliche Rückenschmerzen bekommen“, erzählt die 126 Zentimeter große Birgit Waßmann aus Erlangen. Die Sechsundfünfzigjährige besitzt   vier von Neuß gefertigte Fahrräder.    Für ihr erstes maßgeschneidertes Fahrrad, ein mattschwarzes 20-Zoll-Sportrad, bezahlte  Waßmann knapp 3000 Euro. 

Da laut dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte 450 verschiedene Formen von Kleinwüchsigkeit unterschieden würden, seien die Maße und der Aufbau ihrer Fahrräder nicht pauschal benennbar, erklärt Neuß.    „Eines meiner Alleinstellungsmerkmale ist, dass ich die Kurbellängen wirklich für jede Person extra anpasse.“  Kunden von weiter weg zu bedienen ist für sie kein Problem.  „Ich habe  ein recht einfaches Messprotokoll, was ausgefüllt werden kann. Damit habe ich auch schon Kunden aus Österreich und der Schweiz bedient, die ich noch nie gesehen habe.“

Eine  große Rolle spielen für  Neuß  nicht die Längen der Körperteile, sondern die Winkel, die aus ihnen resultieren. „Wenn die Winkel eingehalten werden, entstehen aus denen die drei Kontaktpunkte Lenker, Sattel und Pedale quasi von selbst.“ Nach dem Entstehen der Skizze lässt sie die Fahrradrahmen bauen und setzt sie selbst zusammen. Der  Produktionsprozess dauert vier bis sechs Wochen. „Mit allem Drum und Dran bin ich fast immer, egal wie groß das Rad ist, bei knapp 3000 Euro.“

 Mit einem Monatsumsatz von 15 000 Euro im Jahr 2020 konnte Neuß im Vergleich zum Vorjahr  einen Zuwachs von 50 Prozent verzeichnen –  dank der  Lockdowns in der  Corona-Pandemie.  Für 2021  fällt ihre Prognose  etwas schlechter aus. Für dieses Jahr plant    Neuß ein Tandem, das sie  auf den „World Dwarf Games“,  dem  weltgrößten Sportevent für Kleinwüchsige,  präsentieren möchte.

 

Zur Veröfffentlichung in der F.A.Z

Weiterlesen

Cookie Einstellungen