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Mal so, mal so!

In geselliger Runde ein Kunstwerk anfertigen – das bietet Realtainment an. Das Berliner Unternehmen trifft offenbar den Nerv der Zeit.

F.A.Z.

4.11.2021

Scott Seitz

Tannenbusch-Gymnasium, Bonn

In einer digitalisierten,  leistungsorientierten Welt mal wieder die Zeit für Kreativität und Handarbeit finden –  das sei dringend notwendig, meint Aimie-Sarah Carstensen, Geschäftsführerin der Berliner   Realtainment GmbH, die die    ArtNights konzipiert hat. „Unsere Gesellschaft ist zunehmend von Einsamkeitsgefühlen und einer Always-On-Mentalität geprägt. In den Medien liest man oft, dass Einsamkeit weltweit eines der weitverbreitetsten Probleme der heutigen Zeit ist“, sagt Carstensen. „Mit unseren Erlebniskonzepten wie der ArtNight wollen wir die Menschen real und interaktiv zusammenbringen, sie mal wieder etwas mit den eigenen Händen schaffen lassen und verloren gegangene Hobbys und Leidenschaften zurückbringen.“

Bei einer ArtNight wird in Gruppen von etwa 20 Personen  unter Anleitung lokaler Künstler ein  Kunstwerk angefertigt.  Mal geht es um Collagen, mal findet eine Veranstaltung rund um einen bekannten Künstler wie Monet, Banksy oder Rothko statt. Vor der Corona-Pandemie fanden die Veranstaltungen  in angesagten Cafés, Bars und Restaurants vieler Städte in Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, Österreich und den Niederlanden statt. In nahezu jeder größeren deutschen Stadt gibt es  inzwischen  ArtNights.  Man ist laut Carstensen der größte Anbieter von Events dieser Art. Monatlich fänden mehr als  1000 Events mit über 30 000 Teilnehmenden statt. Weder Materialien noch Vorkenntnisse werden benötigt. Ein Ticket kostet 39 Euro. Seit Mai 2020 kann auch von zu Hause  aus teilgenommen werden.

Carstensen hat  mit David Neisinger  2016  die Realtainment GmbH gegründet, an deren ArtNights und weiteren Events   bis Frühjahr  2020 mehr als  500 000 Menschen teilgenommen hatten.  Neisinger kam gerade zurück von einer Weltreise, die auch einen Stopp in den USA beinhaltete.   „Paint and Sip“, ein zu dieser Zeit gängiges Datingformat in den USA, hatte es ihm angetan. Schnell war nach seiner Rückkehr auch Carstensen von der Idee des gemeinsamen Malens begeistert, und so dauerte es gerade einmal sechs Wochen, bis eine Internetseite  erstellt und erste Künstler akquiriert waren. Mediale Aufmerksamkeit erlangte das Unternehmen durch die Teilnahme an der Vox-Sendung „Höhle der Löwen“ im Jahr 2017. Das persönliche Startkapital betrug 4800 Euro,   Georg Kofler investierte  150 000 Euro für 10 Prozent der Firmenanteile. Im Februar 2020 verzeichnete Realtainment nach eigenen Angaben einen stabilen monatlichen Umsatz im oberen siebenstelligen Bereich. Inzwischen stehen hinter dem Unternehmen noch einige weitere Business Angels, darunter  Monkfish Equity und  Acton Capital.

Die ArtNights sind das Herzstück der Realtainment GmbH, seit 2019 werden  weitere Konzepte wie Bake- und Plant-Nights angeboten. Es gehe immer um „Edutainment“.  „Das bedeutet für uns einen Mix aus Entertainment und Education, also aus Spaß, geselligem Austausch und der gleichzeitigen Vermittlung künstlerischer und/oder handwerklicher Fähigkeiten“, erklärt Carstensen. So kann man im Rahmen einer PlantNight Makramee erlernen und in den  BakeNights   Macarons, Sauerteigbrote oder   Croissants herstellen.

Die Corona-Pandemie traf die Veranstaltungsbranche hart. Auch  Realtainment  ist betroffen.  ArtNights und weitere Events mussten  abgesagt werden.  „Zwischen März und November 2020 verloren  wir 70 Prozent des geplanten Umsatzes“, sagt Carstensen. Durch Online-Produkte habe man aber die Hälfte dieser Verluste wieder ausgleichen können. „So haben wir durch die Corona-Pandemie kein Umsatzwachstum im Jahr 2020 verzeichnet, aber immerhin eine Restabilisierung des Umsatzes geschafft, sodass wir zum Ende des Jahres wieder ähnliche Zahlen wie zu Anfang verzeichnen konnten.“

Die Online-Angebote  seien  gut angenommen worden. Nach starken Einbußen konnte die Zahl der Neukunden von Juni 2020 an innerhalb von  sechs Monaten um 230 Prozent gesteigert werden.  Die Online-Formate böten außerdem die  tolle Möglichkeit,  Künstler, deren berufliche  Existenz in der  Krise bedroht sei, zu unterstützen.

 Sandra Schidlowski betreut   seit Anfang 2020  ArtNights in Bonn; man kann unter ihrer Leitung   unter anderem die Bonner Skyline anfertigen. Sie lernte  das Konzept durch die „Höhle der Löwen“ kennen und  besuchte  selbst  drei  Events, berichtet die selbständige Grafikerin. „Bei der vielen Zeit, die ich berufsbedingt vor dem Computer verbringe, ist die Betreuung von ArtNights nicht nur finanziell eine lukrative Nebenbeschäftigung für mich, sondern auch ein schöner Ausgleich und eine tolle Möglichkeit, unter Leute zu kommen“, erzählt sie. Als  angenehm empfindet Schidlowski die flexiblen  Arbeitszeiten. Sie schätzt zudem,  dass Realtainment  die Künstler   fördert, indem sie ihre Kunst  vorstellen können. Fair sei auch die Bezahlung.  Unabhängig von der  Teilnehmerzahl erhält man einen  Pauschalbetrag. „Daneben gibt es noch den sogenannten Happiness-Score. Nach der ArtNight wirst du von allen Teilnehmern bewertet. Je besser diese Bewertung ausfällt, desto höher wird dein Happiness-Score –  und damit auch der Bonus, den du pro Teilnehmer erhältst.“ Das sei ein  guter Anreiz, den Abend  spannend und lustig zu gestalten „und gleichzeitig eine sinnvolle Absicherung für die Realtainment GmbH, dass wir uns gut vorbereiten und stets Mühe geben“. Je  Workshop erhalten die  Künstler bis zu 220 Euro.

Spannend findet Schidlowski  die Kundschaft. Bei einem sehr femininen Motiv seien  schon mal größere Männergruppen  erschienen. „Wir müssen die Blumen ja nicht zwingend rosa malen“,  hätten sie gesagt.  Wenn sich Leute auf etwas Neues einlassen, sei das besonders erfüllend, erzählt die Künstlerin.   Sie habe noch keinen Abend erlebt, an dem nicht mindestens eine Person allein gekommen sei. „ArtNights sind auch eine tolle Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen; als Künstlerin kann man dann darauf achten, Alleinkommende zusammenzusetzen.“  Die Veranstaltungen seien auch eine Partnerbörse. Gründerin Carstensen erwartet für die Post-Corona-Zeit eine stark steigende  Nachfrage.  Mit solchen Erlebniskonzepten treffe man den Nerv  der Zeit.  

Zur Veröffentlichung in der F.A.Z.

Scott Seitz

Tannenbusch-Gymnasium, Bonn

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