Martin Schleske bringt sehr unterschiedliche Disziplinen zusammen: Er ist Geigenbaumeister, hat Physik studiert und beschäftigt sich mit Religion. In seiner Werkstatt in Landsberg am Lech stellt er mit drei Mitarbeitern besondere Geigen her, seit 24 Jahren. Die „New York Times“ hat ihn als einen führenden Geigenbauer aus Deutschland bezeichnet. Zwei Kollegen helfen bei der Herstellung, ein Mitarbeiter arbeitet im Büro. Im Jahr werden rund 25 Geigen gefertigt. Die lange Produktionszeit lohne sich, sagt Schleske, da die Geigen so qualitativ besser und vor allem außergewöhnlich würden. Ein gutes Instrument sei für den Musiker wie seine Stimme eine singende Seele. „Eine wirklich gute Geige ermöglicht es dem Musiker zu fliegen“, sagt Schleske.
Seine „singenden Seelen“ sind international bekannt und begehrt. Derzeit stehen 40 bis 50 Musiker auf seiner Warteliste, vier Fünftel sind Berufsmusiker. Eine Geige kostet zwischen 25000 und 50000 Euro. Schleske stellt auch Bratschen für einen ähnlichen Preis her und Celli, die 40000 bis 60000 Euro kosten. Jährlich verkauft er etwa drei Celli und fünf bis sechs Bratschen. „Richtig wertvoll wird es, wenn ich nicht mehr lebe“, sagt er. Dann kämen keine Geigen mehr hinzu. „Alles, was begrenzt ist, ist wertvoll.“
Zu den Kunden gehören die bekannten Violinisten Ingolf Turban und Jehi Bahk. Schleskes Instrumente kauft man nicht einfach in seinem Laden. Er möchte zunächst jeden Kunden kennenlernen, um den Charakter einschätzen zu können. „Wenn eine Geige fertig ist, prüfe ich innerlich, zu wem sie passen könnte. Und dann rufe ich an und meine, ja, es könnte sein, dass deine Geige fertig ist.“ Dann lädt er den Kunden ein, das auszuprobieren. Bis ein solcher Anruf kommt, können allerdings zwei bis drei Jahre vergehen. Passt die Geige, dann löst das starke Gefühle aus.
Schleske erschafft seine Geigen mit Hilfe von Akustikanalysen, die er in seinem Akustiklabor durchführt. Die wichtigsten sind die Modalanalyse und die Spektralanalyse/Schallanalyse. Bei der Modalanalyse werden die Schwingungsformen gemessen und dann animiert. „Dadurch kann man systematische A-B-Vergleiche verschiedener konstruktiver Veränderungen durchspielen und deren Einfluss auf die Akustik verstehen“, erklärt Schleske. Diese computergestützte Analyse stammt aus der Luft- und Raumfahrt. Jede Geige besitzt eine Eigenschwingung, die bestimmt, wie das jeweilige Instrument klingt und wie es sich spielen lässt. Durch die Modalanalyse wird beim Neubau von Streichinstrumenten der Klang eingestellt. Bei der Spektralanalyse/Schallanalyse wird die Schallabstrahlung gemessen und räumlich dargestellt: Was wird genau an Schall abgestrahlt, wenn das Instrument angeregt wird? Die musikalischen Informationen, die so gewonnen werden, werden auf farbigen Landkarten sichtbar gemacht. Aussagekräftig ist der Vergleich mit anderen Instrumenten. Die Spektralanalyse erstellt ein individuelles Resonanzprofil. Unter anderem liefert das Resonanzprofil Daten für die psychoakustische Auswertung: wie ein Ton das Innenohr eines Menschen anregt. Das Resonanzprofil wird mit Hilfe von 36 Messungen der räumlichen Schallabstrahlung ermittelt. Schleskes Forschungsergebnisse hat das Deutsche Museum in München in seine Sammlung aufgenommen.
Holz, Lack und Form spielen eine elementare Rolle, wenn es um den Klang geht. „Viele Faktoren bestimmen den Klang: die richtige Verbindung von Modell, Wölbung, Ausarbeitung, Holzbehandlung und Lackierung“, erklärt Schleske. Die Grundmodelle bestehen aus Holz der norditalienischen Bergfichte oder des bosnischen Ahorns. Das perfekte Holz wurde mittels anatomischer und akustischer Analysen ermittelt. Wichtig ist das spezifische Gewicht des Holzes wie auch die Schwingungsdämpfung. Nach der Untersuchung des Holzes seien drastische Qualitätsunterschiede aufgefallen, sagt Schleske. Noch drastischer sind die Qualitätsunterschiede verschiedener Lackrezepturen. So hat der Geigenbauer bis heute mehr als 300 Lackbehandlungen untersucht; er versucht, sie stetig zu verbessern. Der Lack sollte nämlich nicht dämpfend auf das Holz wirken, sonst klingt das Instrument stumpf. Er soll das Instrument klanglich veredeln.
Auch die Form der Geige ist sehr wichtig, da so der Resonanzkörper gebildet wird, auf dem die komplette Akustik basiert. Schleske sieht in Holz, Lack und Korpus das Geheimnis der italienischen Vorgänger: „Lebendige Tradition, intuitive Forschung, ein Gespür für sehr gutes Holz und eine sinnvolle Holzbehandlung.“ Sein Ziel ist, den legendären italienischen Geigenbaumeister Stradivari zu übertreffen.
Mehr zur Herstellung seiner Geigen hat Schleske als Schriftsteller zu Papier gebracht. „Der Klang“, sein erstes Buch, wurde gut 100000 Mal verkauft, auch in Südkorea und Amerika. Darin beschäftigt er sich viel mit einer weiteren Komponente, die seine Geigen beeinflusst: seiner Religion, die schon in seiner Jugend wichtig für ihn war. „Ich hatte da eine unglaubliche Leidenschaft entwickelt – dass dies etwas sehr Lebendiges ist. Ich war verliebt in die Bibel.“ In seinem Buch arbeitet er vierzehn Gleichnisse zu den Grundfragen des Lebens auf. Auch sein zweites Buch mit dem Titel „Herztöne“ verkauft sich ähnlich gut.
Schleske wird 1965 in Stuttgart geboren. Sein Vater spielt Querflöte, die Mutter Klavier, die Schwester Cello und der Onkel Geige. Im 7. Lebensjahr beginnt er mit dem Geigenunterricht, unter anderem bei dem Dirigenten Attila Balogh. Mit etwa 16 Jahren weiß Schleske, dass er Geigenbauer werden will. „Die Kombination aus Handwerk, Kunst und Musik ist total reizvoll. Also nicht nur denken, sondern auch handeln. Der ganze Mensch ist gefragt“, sagt er. Nach seiner Ausbildung besucht er eine Forschungswerkstatt. Ihn beschäftigen Fragen zum Klang, die keiner seiner Meister beantworten kann. Deshalb absolviert er ein Physikstudium in München. Seine Diplomarbeit schreibt er über die Eigenschwingungen im Werdegang einer Geige.