Die ersten nachgewiesenen Reetdächer gab es, wie die UNESCO berichtet, schon 4000 vor Christus: auf Pfahlbauten am Bodensee. Heute finde man Reetdächer vor allem im Norden Deutschlands in Küstennähe, wo Schilfrohr, im Volksmund in Niedersachsen und Schleswig-Holstein „Reet“ und in Mecklenburg-Vorpommern „Rohr“ genannt, in Mooren einst natürlich wuchs. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat das Reetdachdeckerhandwerk 2014 zum immateriellen Kulturerbe erklärt. „Reetdächer machen wohl einen niedrigen einstelligen Prozentbetrag in Relation zur Gesamtheit aller deutschen Gebäude aus“, sagt Bernd Redecker, Betreuer des Fachausschusses Reet im Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks. Die Zahl der Reetdachdeckereien schätzt er auf rund 150.
Traditionell mit Reet gedeckt werden alte Bauernhäuser und Mühlen. Zunehmend setzten touristische Resorts auf den Naturbaustoff, um Gäste anzulocken, erzählt Tom Hiss, Geschäftsführer der Hiss Reet GmbH aus dem schleswig-holsteinischen Bad Oldesloe. Hiss sei das älteste Unternehmen, das in Deutschland Reet vertreibe, und mit einem Anteil von 40 Prozent marktführend. „Wir sind Partner der Dachdecker und liefern den Baustoff“, sagt Hiss, der das Unternehmen in sechster Generation leitet.
1833 gründete der Seefahrer Matthias Hiss das Unternehmen. Man handelte auf der Ostsee landwirtschaftliche Produkte wie Getreide. „Seit den 1920er-Jahren wurde dann Reet mitaufgenommen“, erzählt Hiss. Bis in die Achtzigerjahre vertrieb man ausschließlich Reet, das in Deutschland wuchs. Dem hätten, sagt der Geschäftsführer, ein „verkehrt umgesetzter Naturschutz“ und die damit verbundenen behördlichen Erschwerungen bei der Reeternte ein Ende gesetzt. „Der Naturschutz wurde in den vergangenen Jahrzehnten rein dogmatisch nach dem Motto umgesetzt, die Natur sich selbst zu überlassen, unabhängig davon, ob es Sinn macht oder nicht“, sagt Hiss. „So wurde die Erntezeit bis Ende Februar sehr starr gehandhabt. Selbst wenn Ende Februar noch alles unter Eis und Schnee lag und die Ernte ohne nistende Vögel gut hätte weitergehen können, mussten die Bauern mit der Ernte aufhören.“
Das Unternehmen Hiss begann zunächst in Ungarn, dann in der Türkei und ab den Neunzigerjahren in Rumänien Reet zu ernten. „Ungefähr 15 Prozent des Bedarfs an Reet wächst in Deutschland noch lokal, wir sind also Importeure“, berichtet Hiss. Es gebe allerdings im Sinne des Naturschutzes heutzutage immer mehr Bestrebungen, Moore in Deutschland wieder unter Wasser zu setzten und darin Schilf wachsen zu lassen. „Inzwischen hat man herausgefunden, dass die Bewirtschaftung von Schilfflächen gut für das Klima ist. Sowohl die Moore als auch später das Reetdach dienen als CO2-Speicher“, erklärt Hiss.
Man besitzt Produktionsunternehmen in Mersin in der Türkei mit rund 30 Mitarbeitern und im Donaudelta in Rumänien mit rund 50 Mitarbeitern. Das Reet wird geerntet, geputzt und gebündelt, bevor es nach Deutschland, Holland, Dänemark, England und Irland verschifft wird. Die Exportquote liegt laut Geschäftsführer bei rund 40 Prozent; Dänemark sei der größte Absatzmarkt.
„Ein Bund hat einen Umfang von 55 bis 60 Zentimetern“, erläutert Hiss. Ein Bund koste die Reetdachdecker 5 bis 6 Euro; für einen Quadratmeter Dach brauche man 10 bis 12 Bunde. Die Kosten für Material und das Decken des Reetdaches belaufen sich bei Neubauten mit durchschnittlich vielen Details wie Gauben und First auf rund 190 bis 200 Euro je Quadratmeter, sagt Sascha Lahrssen, Reetdachdeckermeister und Inhaber der Dachdeckerei De Reitdachdecker aus Wesselburen in Schleswig-Holstein, der seit gut 20 Jahren mit Hiss Reet zusammenarbeitet. Für eine Dachsanierung könne man mit fast dem doppelten Preis rechnen, da oft noch eine energetische Sanierung und das Sanieren des Dachstuhls hinzukämen. Der Preis für das Decken eines Ziegeldachs inklusive der Materialkosten liege im Regelfall bei etwa 70 bis 80 Euro je Quadratmeter, sagt Lahrssen, der mit seinen 13 Mitarbeitern von April 2022 bis Anfang November rund 5500 Quadratmeter Dachreet verlegt hat.
Hiss Reet liefert laut Geschäftsführer jährlich Reet für rund 300 Häuser, wovon etwa 80 Prozent zu renovierende Altbauten und 20 Prozent Neubauten seien. In der Herstellung sei das Reetdach nicht zwingend viel teurer als ein herkömmliches Pfannendach; kostspielig werde es, wenn man die Haltbarkeit einbeziehe. „Bei einer alten Mühle, wenn der Dachwinkel sehr steil ist, kann das Reetdach schon mal 80 Jahre halten, generell geht man aber ungefähr von einer Haltbarkeit von 30 bis 40 Jahren aus.“
„Je steiler das Dach, je weniger Einbauteile wie Giebel es hat, je freier es steht, desto besser“, sagt Dachdecker Lahrssen. Für das Verlegen von Reet müsse man ein Gefühl entwickeln. „Das ist noch echte Handwerkskunst.“ Allein in 50 Kilometer Umkreis seines Unternehmens gebe es etwa zehn andere Reetdachdeckereien.
Lahrssen erinnert sich an einen speziellen Auftrag: „Wir sollten den Turm einer alten holländischen Windmühle neu eindecken.“ Lahrssen war der Auftrag eigentlich zu viel. Deswegen habe er, in der Hoffnung, ihn nicht zu bekommen, den Preis sehr hoch angesetzt. Doch der Auftraggeber habe angeboten, das Doppelte zu bezahlen; und man habe den Auftrag dann doch ausgeführt. „Bei der Dankesfeier kam raus, dass es der letzte Wunsch der an Krebs erkrankten Frau des Auftraggebers war, die Mühle noch einmal mit Reet gedeckt zu sehen.“ Man habe dann doch nur den normalen Preis genommen. Zwei Monate später habe sich der Mann aus Münster gemeldet: Seine Frau hatte den Krebs besiegt.
Hiss Reet erzielt nach eigenen Angaben einen jährlichen Umsatz im oberen siebenstelligen Bereich. Neben dem Geschäft mit dem Dachreet, das laut Geschäftsführer rund 60 bis 65 Prozent des Gesamtumsatzes ausmacht, setzt man auf andere Produkte: Gartenzäune, Sonnenschirme, Dämmplatten, Schallabsorber, Insektenhotels und Trinkhalme – alles aus Schilf. In der Corona-Zeit sei man deutlich gewachsen und beschäftige nun 13 Mitarbeiter, 2019 seien es neun gewesen.
Der Markt mit dem Dachreet ist nach Hiss in den vergangenen zehn Jahren allerdings eher geschrumpft. „Das Bewusstsein hat sich geändert.“ Die Dächer würden mehr gepflegt und mehr repariert. „Das Reetdach hat sich vom Dach der armen Leute zu einem für Betuchtere entwickelt“, sagt Lahrssen. Seine Zukunft sieht er vor allem durch den fehlenden Nachwuchs gefährdet. In ganz Deutschland gebe es jedes Jahr nur etwa sechs bis zehn Lehrlinge in diesem traditionellen Handwerksberuf.