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Der Besuch der alten Dame

Notre-Dame de Paris wird man erst von 2024 an wieder besichtigen können. Histovery ermöglicht schon heute den Besuch der Kathedrale.

F.A.Z.

17.03.2023

Daria Christonaki

Heinz-Berggruen-Gymnasium, Berlin

Die Albrechtsburg im sächsischen Meißen ist das älteste Schloss Deutschlands und einen Besuch wert. Es bezeichnet sich auf seiner Internetseite  als „Trendsetter seit 1471“, und tatsächlich gibt es gleich zu Beginn eine Überraschung: An der Kasse erhält jeder Besucher ab sechs Jahren zum Eintrittsticket einen Tabletcomputer. Damit   geht es einen alten Wendelstein hinauf in den Großen Saal. Gleich daneben liegt die Große Hofstube. Auf Filzpantoffeln gleitet man über das polierte Parkett vorbei an kunstvoll geschnitzten Skulpturen, dicken Säulen und mittelalterlich aussehenden Wandmalereien. Doch sind diese wirklich so alt wie sie auf den ersten Blick aussehen?

Um das herauszufinden, scannt man das Tablet an einem Zeitportal und hält es gegen die Malereien. Das Tablet hat eine 360-Grad-Funktion, sodass man sich frei im Raum bewegen und gleichzeitig auf Zeitreise begeben kann: Es zeigt, wie der Saal im Spätmittelalter, ganz konkret 1493 während eines Hofbanketts zu Ehren des Kurfürsten Friedrich des Weisen, aussah. Alles ist detailliert abgebildet, von einer mit dampfenden Speisen gedeckten langen Tafel mit Eichhörnchen, Kapaun und Krebsmus, den Mitgliedern des Hofes bis hin zur festlichen  Dekoration des Raums mit wärmenden Wandbehängen und Funken spuckenden Fackeln. Ein Klick auf einzelne Personen und Objekte liefert kurze Hintergrundinformationen.

Ein Wisch nach rechts katapultiert die Betrachter in eine zweite Epoche – in das Jahr 1840, als die Albrechtsburg längst zur Manufaktur für das weltberühmte Meissner Porzellan geworden war. Die Große Hofstube ist nicht wiederzuerkennen: Das mittelalterliche Gewölbe ist durch einen Brand zerstört worden,  Zwischendecken wurden eingezogen, und der Saal wird für die Herstellung von Brennkapseln verwendet, die das Porzellan beim Brennen vor Schmutz schützen.  3-D-Modelle zeigen  interaktiv  die einzelnen Schritte der Porzellanherstellung.

Hinter diesem Tablet steckt  Histovery, ein Wortspiel aus Discovery und History: Das französische Unternehmen   wurde  2014 gegründet und hat seinen Sitz zwischen den Tuilerien und der Place Vendôme in Paris. Sein Produkt, der Tablet-Guide Histopad, wird  in einigen der bekanntesten Schlösser und Museen in Frankreich eingesetzt, unter anderem  in den Unesco-Welterbestätten Chambord und der Königlichen Saline von Arc-et-Senans. Es belebt auf dem Display die kahlen Wände des Papstpalasts in Avignon und   die abgerissenen Festsäle der Pariser Conciergerie.

Seit 2020 ist das Unternehmen auch in Deutschland tätig. Die Albrechtsburg Meissen ist laut Schlösserland Sachsen gGmbH  die erste Sehenswürdigkeit in Deutschland, die ihre Besucher mit der Augmented-Reality-Technologie des Histopads empfängt. Mittlerweile ist die barocke Moritzburg hinzugekommen. Bis Januar konnten  Besucher mit dem Histopad im Dresdner Palais  in 22  detailliert ausgearbeiteten Stationen durch die 850-jährige Geschichte von  Notre-Dame de Paris navigieren. Nach dem verheerenden Brand der Kathedrale bleibt diese noch bis 2024 geschlossen. Bis dahin tourt die von Histovery konzipierte Ausstellung „Notre-Dame de Paris – l’Exposition augmentée“ durch die Welt mit Stationen in Dubai, Paris, Washington, Dresden, New Orleans und Schanghai. Die Monumente, mit denen Histovery kooperiert, ziehen laut Pressesprecherin Mathilde Michaut jedes Jahr rund 3,5 Millionen Besucher an.

Auf die Frage, was denn das Histopad so einzigartig mache, antwortet Gründer und Geschäftsführer  von Histovery, Bruno de Sa Moreira: „Das Histopad ermöglicht eine interaktive, immersive, visuell ästhetische und detaillierte Führung des jeweiligen Monuments in einem von den Besuchern individuell bestimmbaren Tempo.“ Das Produkt richtet sich an ein breites Publikum, da die Texte knapp und verständlich geschrieben sind, das Tablet auch von älteren Besuchern leicht zu bedienen ist und es für kleine Gäste eine eingebaute Schatzsuche gibt.

Wie genau verläuft die Produktion eines Histopads? Sobald ein Projekt mit einem Monument für eine Laufzeit von mehreren Jahren vereinbart ist, kümmert sich Histovery um alles, wie   Sa Moreira erzählt. Die Produktionsabteilung stellt für jedes neue Projekt eine wissenschaftliche Kommission zusammen, in der sich Kuratoren, Museologen, Historiker und andere Fachleute austauschen. Sie legt  die Auswahl der virtuell zu rekonstruierenden Säle und Gegenstände, den Verlauf der virtuellen Führung und die Zeitstränge fest. Ein Team von Profifotografen lichtet das Monument als Grundlage für die AR-Rekonstruktion ab.

 Über jedes einzelne Detail wird dann intensiv beraten, und der Partner prüft jedes  Bild. Hoch spezialisierte Grafiker setzen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Kommission visuell um, ein Autorenteam schreibt die Teaser und Texte, die in viele Sprachen übersetzt werden, darunter auch „Leichte Sprache“.

„Dies dauert rund 5 bis 6 Monate. Doch einen Vertrag zu unterschreiben dauert am längsten“, berichtet Sa Moreira.  Das   Histovery-Team  besteht aus rund 30 Personen, unter anderem sind es  Historiker, Architekten, IT-Fachleute und  Grafiker.

 Üblicherweise vorfinanziert Histovery die gesamte Produktion; die Kosten  liegen laut  Sa Moreira bei rund einer halben Million Euro je Projekt. Man einigt sich mit dem jeweiligen Partner vertraglich auf einen geringen Betrag, den der Partner je Besucher an das Unternehmen  zahlt. Meistens liegt dieser zwischen 1 und 2 Euro und  ist  im Eintrittspreis inbegriffen, sodass die Besucher gar nicht merken, dass sie für die Kulturvermittlung zahlen. Ob der Ticketpreis dadurch erhöht wird, entscheidet das Monument.

Im Jahr 2019 hat Histovery rund 3 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet.  Durch die Pandemie litten die Schlösser und Burgen an niedrigen Besucherzahlen, was  auch Histovery traf. Seit die Monumente wieder uneingeschränkt öffnen dürfen, läuft es wieder gut. Sa Moreira schätzt den Umsatz für 2022 auf rund 4 Millionen Euro, was auch auf den Welterfolg der Ausstellung Notre-Dame zurückgeht.

Zurzeit arbeitet Histovery  am dritten Projekt in Deutschland, dem für die Öffentlichkeit bislang nur in Teilen zugänglichen Schloss Colditz, das als Gefangenenlager für alliierte Offiziere im Zweiten Weltkrieg diente. Auf die Frage, wie sich die Zusammenarbeit mit den deutschen Partnern gestalte, antwortet  Sa Moreira: „Unsere Partner in Deutschland achten sehr auf Detailarbeit und schätzen unsere Ideen.“

Die Monumente werden durch das Histopad noch attraktiver, was  sich in signifikant gestiegenen Besucherzahlen niederschlage.   Der Leiter der Albrechtsburg,  Uwe Michel, zeigt sich begeistert: „Das Histopad ist für uns ein geniales Vermittlungsformat. Vor dessen Einführung haben wir die Ära der ersten europäischen Porzellanmanufaktur in der Albrechtsburg unseren Gästen mündlich vorgetragen.“ Für die Besucher sei es schwer vorstellbar gewesen, wie eine Manufaktur in einem Schloss funktioniere. „Nun können sie sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild machen. Sie lieben das Histopad.“

 

Zur Veröfffentlichung in der F.A.Z

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