Massentierhaltung, antibiotikaresistente Keime im Tierfutter, Schweinegrippe oder Pferdefleisch in der Lasagne – es häufen sich die Gründe, die Menschen dazu bewegen, ihren Fleisch- und Wurstkonsum zu reduzieren oder ganz auf tierische Produkte zu verzichten. Zu Beginn dieses Jahres gab es nach Angaben des Vegetarierbundes Deutschland (Vebu) hierzulande rund 7,8Millionen Vegetarier. Hinzu kommen 42 Millionen Flexitarier, Menschen, die höchstens zweimal in der Woche Fleisch essen oder dies erwägen.
Darauf reagiert der Wurstproduzent Rügenwalder Mühle Carl Müller GmbH und Co. KG aus dem niedersächsischen Bad Zwischenahn seit Dezember des vergangenen Jahres mit dem Verkauf fleischfreier Wurst. Die Fleischersatzprodukte werden auf Basis von Eiklar, Soja und Rapsöl hergestellt. Zunächst wurden vegetarische Schinkenspicker vertrieben. Nach eigenen Angaben verkaufte Rügenwalder vier Monate später mehr fleischlose als fleischhaltige Schinkenspicker.
„Viele Menschen möchten nicht auf den guten Fleisch- und Wurstgeschmack verzichten, wenn sie sich für eine vegetarische oder flexitarische Ernährung entscheiden“, sagt Christian Rauffus, Inhaber und Geschäftsführer von Rügenwalder. Die Verantwortlichen hatten zunächst mit einem wöchentlichen Absatz von 5 Tonnen vegetarischer Produkte kalkuliert. Die Verkaufsmenge ist inzwischen auf ein Vielfaches hochgeschnellt. Seit Februar kann man vegetarische Frikadellen kaufen, seit dem 18. Mai findet man fleischlose Schnitzel und Nuggets von Rügenwalder im Kühlregal.
„Die größte Herausforderung für uns war es, vegetarische Produkte zu entwickeln, die so schmecken wie normale Fleischprodukte“, sagt Innovationsmanager Jörg Bunk. Das Unternehmen ist der erste Betrieb, der im großen Stil fleischlose Wurst anbietet, und so schnell zum Marktführer geworden. Im Februar hatte Rügenwalder nach einer Statistik der Information Resources GmbH (IRI) schon einen Marktanteil von 46 Prozent an vegetarischen Aufschnitten. Damit wurden Unternehmen wie Aldi oder Landhof von ihren Vorreiterpositionen verdrängt. Zudem gehören nach IRI-Angaben vier Veggie-Artikel der Rügenwalder Mühle zu den fünf umsatzstärksten Veggie-Produkten in Deutschland.
Bunk zufolge ist der Erfolg vor allem das Ergebnis von Marketing und Qualität der Produkte. „2014 haben wir einen zweistelligen Millionenbetrag in Werbekampagnen investiert. Wir setzen in unserer Werbung vor allem auf eigene Mitarbeiter, Transparenz und Sympathie. So haben wir eine starke Marke entwickelt.“ Die 80-Gramm-Packung vegetarische Schinkenspicker Mortadella ist für 1,29 Euro erhältlich und kostet 30 Cent mehr als dieselbe Menge der fleischhaltigen Variante. Mit 2,49 Euro je Becher sind die vegetarischen Frikadellen rund 50 Cent teurer als ihre Pendants aus Fleisch.
Nach einer anderen IRI-Statistik wurden 2010 etwa 3500 Tonnen Veggie-Produkte (Teilfertiggerichte und vegetarische Aufschnitte) abgesetzt. Seitdem hat sich der Markt fast vervierfacht. Zwischen März 2014 und März 2015 wurden mehr als 12000 Tonnen Fleischersatzprodukte verkauft, fast 30 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum.
Seit Einführung der fleischlosen Waren hat Rügenwalder gut 50 neue Mitarbeiter eingestellt und beschäftigt nun rund 500 Fachkräfte. Gleichzeitig bemerken natürlich auch Wettbewerber den Erfolg der Rügenwalder Mühle, und Unternehmen wie die Holding Zur Mühlen (Gutfried und weitere Marken) arbeiten an eigenen Veggie-Produkten. Jörg Bunk gibt sich gelassen: „Wir haben zwei Jahre geforscht, um eine Rezeptur für vegetarischen Aufschnitt zu entwickeln. Folglich haben wir einen Innovationsvorsprung, den wir ausbauen wollen.“
Es ist nicht das erste Mal, dass Rügenwalder die Strategie wechselt. 1995 bestand das Unternehmen aus 25 Metzgereien, die im Filialsystem unter dem Namen Carl Müller gut 400 Produkte anboten. Die Entscheidung, unter dem Namen Rügenwalder Mühle reiner Fleischproduzent zu werden und sich nur noch auf acht Marken zu konzentrieren, führte zur Schließung der Filialen. Nach Unternehmensangaben ist jede der acht Marken heute unter den Marktführern, und der Gesamtumsatz konnte von 45 Millionen 1996 auf rund 180 Millionen Euro im vergangenen Jahr gesteigert werden; der Gewinn verzehnfachte sich im gleichen Zeitraum. Aktuell beliefert der Wursthersteller 80 Prozent der deutschen Supermärkte.
Dass das Unternehmen nun auf vegetarische Produkte setzt, ist für den Geschäftsführer ein notwendiger Schritt: „Wir werden wohl die erste und letzte Generation sein, die jeden Tag Fleisch auf dem Teller hat“, sagt Rauffus. Nun arbeitet das Unternehmen daran, Eiweiß aus der Rezeptur zu entfernen, um vegane Varianten aller Produkte auf den Markt bringen zu können.