Wer nicht ganz schwindelfrei ist, sollte sich für einen anderen Beruf entscheiden“, sagt Sven Flender. Er arbeitet seit fünfzehn Jahren als Zapfenpflücker für das Forstamt in Altenkirchen im Westerwald. Im Spätsommer erklettert der Vierzigjährige etliche bis zu 60 Meter hohe Stämme und pflückt in den Kronen die Zapfen. Aus der Ernte, die er und andere Zapfenpflücker einbringen, wird Saatgut gewonnen, das an Baumschulen verkauft wird. „Damit die Samen als Forstsaatgut taugen, müssen die Zapfen noch grün vom Baum geerntet werden. Wenn sie braun am Boden liegen, enthalten sie meist gar keine brauchbaren Samen mehr“, erklärt Flender. In die schwindelerregende Höhe der Baumkronen treibt ihn aber nicht nur die Pflicht, sondern auch der Spaß an der sportlichen Betätigung, die allerdings nicht ganz ungefährlich ist. „Ich habe keine Angst, aber ich respektiere jeden Baum“, erzählt der Zapfenpflücker. „Man muss immer aufmerksam sein und darf sich nicht überschätzen.“
Die Geschichte der Zapfenpflückerei beginnt im 17. Jahrhundert in Nordbayern. Damals war der Landstrich in der Nähe von Amorbach durch die Pest und den Dreißigjährigen Krieg entvölkert. Der Bischof von Mainz siedelte dort Südtiroler an, die die Zapfen zur Samengewinnung von den Bäumen holten. Heute gebe es etwa 100 professionelle Zapfenpflücker in Deutschland, schätzt Flender. Doch die Zahl der Menschen, die eine staatliche Ausbildung zum Zapfenpflücker machten, gehe stark zurück. Vor allem Angestellte privater Unternehmen übernähmen heute diese Tätigkeit. Ihr Gehalt richte sich danach, wie viel sie geerntet hätten.
Die Forstbetriebe beauftragen die Ernteunternehmen, erwerben die Zapfen und verkaufen das Saatgut an die Baumschulen. Diese züchten daraus neue Bäume, die wieder von den Forstbetrieben gekauft werden. In Deutschland gibt es nur wenige solcher Ernteunternehmen. Eines davon ist die Plusbaum Samen GmbH im baden-württembergischen Nagold. Neben Saatgut verkauft das Unternehmen Weihnachtsbäume. Es beschäftigt 50 bis 100 Mitarbeiter. Der Umsatz schwankt zwischen 700000 und 1,4 Millionen Euro im Jahr. Rund 25 Prozent des Umsatzes wird mit dem Verkauf von Weihnachtsbaumsamen erzielt. Plusbaum verkauft etwa 50 bis 100 Tonnen Saatgut im Jahr; davon macht der Verkauf der hochwertigen Weihnachtsbaumsamen rund 2 Tonnen aus. Jedoch wächst das Saatgut von Deutschlands beliebtester Weihnachtsbaumsorte, der Nordmanntanne, nicht in Nagold, sondern im Kaukasus, einem Hochgebirge, das unter anderem Georgien durchzieht. Und so sei Plusbaum mittlerweile der größte deutsche Importeur für georgisches Saatgut, sagt der Geschäftsführer Karl-Heinz Moser. Nach seinen Angaben ist das Unternehmen das zweitgrößte Ernteunternehmen in Deutschland. Doch die Verkaufszahlen sinken. Immer weniger Baumschulen kauften bei Plusbaum. „Billiges und illegal geerntetes Saatgut überschwemmt den Markt“, klagt Moser. „Außerdem werden kaum noch Pflanzen aufgeforstet.“ Immer mehr Wälder würden zur Landnutzung abgeholzt. „Die Politiker verstehen nicht, dass es einen Engpass geben wird. 2020 werden uns 20 Millionen Festmeter Holz fehlen.“ Plusbaum ist nicht das einzige Unternehmen, das Saatgut verkauft. Zu den Großen der Branche gehört auch die Steingaesser G. J. & Comp. GmbH. Neben dem Verkauf von Saatgut importiert und exportiert das Unternehmen Naturprodukte und Dekoartikel. Laut der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung gibt es 300 Betriebe, die am Verkauf von Forstsaatgut beteiligt sind. Die Zahl der Betriebe, die sich auf das Zapfenpflücken spezialisiert haben, wird auf achtzig geschätzt.
Welche Menge an Samen aus den Zapfen gewonnen wird, hängt von der Baumsorte ab. So wird aus 100 Kilogramm Douglasienzapfen etwa ein Kilogramm Samen gewonnen, aus denen wiederum rund 40000 neue Bäume entstehen. Nach dem Pflücken landen die Zapfen in der Samenklenge. Dort werden sie in sogenannten Zapfenspeichern gelagert, wo sie trocknen, bis sie ihre Schuppen öffnen und die Samen freigeben.
Der Aufwand hat seinen Preis: Nach Angaben von Plusbaum kostet ein Kilogramm reiner Douglasiensamen rund 1000 Euro. Die Zapfenpflücker erhalten etwa vier Euro je Kilogramm gepflückte Zapfen. „Die Zapfenpflücker selbst haben keinen Einfluss darauf, welchen Baum sie besteigen“, erzählt Martin Ahrens, der Geschäftsgründer von Ahrens Baumpflege aus Neustadt am Rübenberge; früher war er selbst Zapfenpflücker. Förster lassen bestimmte Bestände begutachten, die anschließend von einer Prüfungskommission untersucht werden. Nicht alle Bäume werden als Saatgutbäume zugelassen. „Es geht darum, gesunde Bäume zu haben.“
Anders als bei den staatlich angestellten Zapfenpflückern richtet sich das Gehalt der bei Plusbaum Beschäftigten nach dem Ertrag. Bei einer Arbeitszeit von bis zu acht Stunden am Tag erklimmt ein Pflücker maximal vier Bäume und erntet dabei rund 120 Kilogramm Zapfen. Doch die Saison ist kurz und dauert meist nur drei bis fünf Wochen zwischen August und November. „Erntet man die Samenkörner zu früh, entstehen keine neuen Pflanzen, da sie nicht ausgereift sind. Wenn sie jedoch zu spät geerntet werden, öffnen sich die Zapfen, und die Samen fliegen weg“, erklärt Flender. Außerhalb der Saison arbeitet er als Forstwirt im Westerwald. Da er staatlich angestellt ist, hat er ein festes Gehalt. Während der Wochen, in denen er als Zapfenpflücker arbeitet, erhält er einen Zuschlag von 5Euro in der Stunde, zusätzlich zu seinem regulären Gehalt.
Für die Ausbildung zum Zapfenpflücker, die in einer Baumkletterschule stattgefunden hat, entschied sich der umweltbewusste Flender vor allem wegen der Vielseitigkeit dieses Berufs. Denn Zapfenpflücker ernten nicht nur Saatgut, sie sammeln auch Nadelproben für die jährliche Waldschadenserhebung der Forstämter. „99 Prozent aller Altbäume sind bereits ausgestorben“, erklärt Patrick Lemmen, stellvertretender Leiter im Genressourcenzentrum der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft Rheinland-Pfalz in Trippstadt. Dort ist er verantwortlich für die Erhaltung seltener und aussterbender Baumarten. „Manchmal ist ein ganzes Ökosystem von der Erhaltung einer Art abhängig. Es ist unsere Aufgabe, ein Aussterben der sogenannten monophagen Arten zu verhindern“, fügt er hinzu.