Blutegel sind glitschige Tierchen, die viele Menschen eklig finden – sie können aber wahre Wunder bewirken. Die kleinen Sauger helfen bei vielen Beschwerden, von Gelenkschmerzen, rheumatischen Erkrankungen, Wirbelsäulen- und Kreuzbandsyndromen über Durchblutungsstörungen und Bluthochdruck bis hin zur Heilung von Tinnitus, Abszessen und Furunkeln. Auch in der Tiermedizin und plastischen Chirurgie werden sie verwendet.
Die Biebertaler Blutegelzucht GmbH züchtet die kleinen Blutsauger. Das Unternehmen hat sich aus einer 1989 gegründeten gemeinnützigen GmbH entwickelt, die beruflich schwer integrierbare Menschen ausbildete. In einer kleinen Gärtnerei mit Shiitake- und Austernpilzzucht entstand nebenbei eine kleine Blutegelzucht. Mit rund 10000 Blutegeln setzte man 1991 rund 15000 Euro um. „Seitdem ist viel passiert: Die Shiitake- und Austernpilzzucht wurde 1997 privatisiert und hat das Grundstück verlassen; nun werden ausschließlich Blutegel gezüchtet“, berichtet Andreas Neumann, zuständig für Kundenbetreuung, Buchhaltung und Auftragsbearbeitung.
Nach Neumann beschäftigt der Betrieb rund 30 Mitarbeiter; im Jahr würden 350000 Blutegel verkauft. Der Jahresumsatz liege bei zwei Millionen Euro, Tendenz steigend. Der Marktanteil betrage in Deutschland rund 90 Prozent. Der Preis für einen Zuchtegel liegt bei rund sechs Euro, ein Importegel kostet etwa fünf Euro. Die Ausfuhrquote beträgt rund 20 Prozent. Am häufigsten wird in die Niederlande, Österreich und in die Schweiz exportiert.
Blutegel werden immer populärer, in den vergangenen zwanzig Jahren ist viel über sie geforscht worden. So arbeitet die Biebertaler Blutegelzucht mit der Justus-Liebig-Universität Gießen in der Forschung zusammen. In den Speicheldrüsen der Egel befinden sich 200 Substanzen, die eine heilende Wirkung haben, nur etwa dreißig sind bekannt, zum Beispiel Calin, das die Thrombozytenbindung hemmt und deshalb für starke Nachblutungen sorgt, die Keime und Erreger aus der betroffenen Körperstelle entfernen. Zudem enthält der Speichel keine Krankheitserreger. Die heilenden Substanzen gelangen beim Blutsaugen in den Körper des Wirts.
„Ein Risiko bei der medizinischen Verwendung von Blutegeln ist, dass Keime in den Körper des Menschen gelangen können, wenn der Blutegel vorher nicht kontrolliert wurde. Dies ist allerdings nicht der Fall bei in der Apotheke erhältlichen Egeln, die nur einmal benutzt werden“, erklärt Pharmazeutin Isabelle L’Allemand, die Inhaberin der Dünsberg-Apotheke in Biebertal. „Dennoch gibt es einige Ärzte, die die Behandlung mit Blutegeln ablehnen, da sie diese für altmodisch halten.“ Sie würden aber weniger, weil natürliche Methoden immer beliebter würden. L’Allemand ist einmal in der Woche in der Biebertaler Blutegelzucht vor Ort, wo sie Blutegel auf Keime testen lässt.
Konkurrenz hatten die Biebertaler bisher kaum, weil Blutegel als Arzneimittel gelten und der Betrieb strenge Auflagen erfüllen muss. Beispielsweise müssen vor Verkauf eines Egels die Wasserwerte des Teichs sowie die Egel selbst auf Keime kontrolliert werden. Dafür werden zehn Egel je Teich getötet und auf Keime untersucht. Zudem unterliegt die Blutegelzucht dem Washingtoner Artenschutz; der Tierschutz muss beachtet und die Vorgaben des Pharmaziedezernats müssen erfüllt werden. Ein Konkurrent ist Ernst Fink, Parasitologe an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er züchte jedoch keine Blutegel, sondern verkaufe Importegel, sagt Neumann. Die Biorepro GmbH aus Potsdam hat bisher die selbst gezüchteten Egel nur exportiert. Sie plant aber, bald für den „wachsenden Bedarf in Deutschland“ eine Jahreskapazität von 250000 bis 300000 Blutegeln aufzubauen.
Da Blutegel als Arzneimittel gelten, muss jedem Blutegel ein Beipackzettel beigelegt werden. Sie sind nicht rezept-, aber apothekenpflichtig. Heilpraktiker, die die Hauptabnehmer der Egel sind, und Humanmediziner können sie direkt bei der Biebertaler Blutegelzucht bestellen. Tierärzte, Tierpraktiker und Privatpersonen können die Blutsauger problemlos in der Apotheke erhalten. Eine große Rolle für den Verkauf der Blutegel spielt die Dünsberg-Apotheke. Sie kümmere sich um den Versand der Tierchen, erklärt Neumann.
L’Allemand hat neue Räume gemietet, um eine Blutegelapotheke neben der regulären Apotheke zu betreiben. Die Egel müssen in separaten Räumen kontrolliert werden. Auch aus Österreich werden sie bestellt. „Seit der Erweiterung zur Blutegelapotheke ist der Umsatz gestiegen, wobei die verkaufsstärksten Monate April und Mai sind“, berichtet L’Allemand. „Human- und Veterinärmediziner sowie Heilpraktiker für Menschen und für Tiere sind die häufigsten Kunden.“
In allen EU-Ländern kann man die Tierchen aus Biebertal direkt beim Unternehmen bestellen, über die EU hinaus ist es kompliziert, wegen der rechtlichen Bestimmungen für Tiertransporte. „In der EU verschicken wir fast ausschließlich nach Westeuropa“, sagt Neumann. „Für den Verkauf werden je Tag etwa 3000 bis 4000 Blutegel in Biebertal verpackt.“
Die Tiere leben in etwa vierzig Teichen, die möglichst naturgetreu gestaltet sind. Bevor sie verkauft werden, kommen sie für sechs bis neun Monate in Quarantäne, ohne Nahrung; dies ist – vor allem bei den Importegeln – wichtig, damit alle Krankheitserreger ausgeschieden werden und keine neuen entstehen. Außerdem müssen die Egel beim Verkauf hungrig sein, damit sie auch wirklich anbeißen.
Die Blutsauger müssen naturgemäß gefüttert werden; die Egel müssen also etwas zum Anbeißen haben. Kleine Blutegel werden deshalb an künstlich hergestellten Membranen angesetzt und trinken dadurch das Pferdeblut, das die Blutegelzucht von einem Schlachter bezieht. Größere Blutegel trinken durch mit dem Blut befüllte Kondome. Außerdem muss man bei jeder Fütterung damit rechnen, dass 10 Prozent der Egel sterben, weil sie sich schnell „totfressen“. Von 100 Blutegelbabys überleben nur rund zehn bis zum Verkauf.
„Die Größe der Blutegel ist für die Benutzung egal, alle wirken gleich. Natürlich achtet man darauf, dass man kleinere Egel für Gesichtsbehandlungen und größere beispielsweise in der Tiermedizin, etwa an Pferden, verwendet“, erklärt Neumann. Man sollte jedoch darauf achten, die Egel nach der Benutzung nicht freizulassen oder noch mal zu benutzen, da Krankheiten übertragen werden können. Des Weiteren sollte man sich die Sauger nur von einem Arzt ansetzen lassen, da es zu Nachblutungen an der Anbissstelle kommen kann.
Neumann erzählt, dass die Frauen, die die Egel verpacken und die zum Teil rund 50 Jahre alt sind, immer noch Hände wie Dreißigjährige haben, was am Schleim der Egel liege. Da tun sich möglicherweise weitere Absatzchancen auf – wenn genügend Frauen ihren Ekel vor Egeln überwunden haben.