Die Fahrkarte, bitte!“ Diese Aufforderung hören Schwarzfahrer nicht gerne. Wirtschaftlich verursachen sie einen hohen Schaden, obwohl es sich aus der Sicht jedes Einzelnen nur um geringe Beträge handelt. Nach Schätzungen sind rund 3 Prozent der Fahrgäste Schwarzfahrer. In der Hauptstadt Berlin wurden im Jahr 2015 in den Bussen und Bahnen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) sowie der S-Bahn rund 670000 Schwarzfahrer erwischt. Bei der BVG hatten 6 Prozent der kontrollierten Fahrgäste kein Ticket, in der S-Bahn 4 Prozent. Nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen entgehen den Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs durch Schwarzfahren Fahrgeldeinnahmen von rund 250 Millionen Euro im Jahr. Der BVG entstehe durch Schwarzfahrer ein jährlicher Verlust von 20 Millionen Euro, sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz.
Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz hat sich mit der Psychologie des Schwarzfahrens beschäftigt. Ohne Ticket zu fahren habe unterschiedliche Gründe, sagt er. Manche Fahrgäste vergäßen schlicht das Ticket, andere wüssten nicht, welche Fahrkarte man für die erforderliche Zone benötige. Das Hauptmotiv sei jedoch, den persönlichen Nutzen zu mehren. Manche Fahrgäste haben auch ein Akzeptanzproblem. „Ich sehe nicht ein, Geld für ein Ticket zu bezahlen, obwohl meine Verbindung nicht pünktlich ist, andauernd ausfällt oder der Zug dreckig ist“, schimpft ein aufgebrachter Schwarzfahrer nach dem Bezahlen der Geldstrafe, die 2015 von 40 auf 60 Euro angehoben wurde. Manche führen auch ein niedriges Einkommen als Grund dafür an, dass sie keine Fahrkarte kaufen. „Ich habe eine Familie mit drei Kindern zu ernähren, und dafür habe ich nur das Kindergeld und die Sozialhilfe zur Verfügung. Wie soll ich für jedes Familienmitglied jeden Monat eine Fahrkarte kaufen?“, fragt Marvin R., ein 35 Jahre alter Familienvater, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Öffentliches Aufsehen haben Schwarzfahrer erregt, die provokant die Aufschrift „Ich fahre schwarz“ irgendwo am Körper trugen. Sie argumentierten, dass sie sich durch diese gut sichtbare Ankündigung die Beförderung nicht, wie es das Gesetz verbietet, „erschlichen“ haben und sich somit nicht strafbar gemacht haben. Tatsächlich sind solche Schwarzfahrer schon freigesprochen worden, zum Beispiel im Jahr 2013 vom Amtsgericht Eschwege. In der Regel sehen die Gerichte das jedoch anders. So hat in einem aufsehenerregenden Fall im Dezember das Oberlandesgericht Frankfurt den Freispruch für einen Fahrgast, der mit einem „Ich fahre umsonst“-Anstecker unterwegs gewesen war, aufgehoben. Vom Landgericht Gießen war Jörg Bergstedt zuvor freigesprochen worden. Der Politaktivist aus Saasen gehört der sozialen Bewegung der „Umsonstfahrer“ an, die sich für einen Nulltarif im Nahverkehr einsetzen, damit arme Menschen mobil bleiben können.
Nach Gallwitz, der bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2013 an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen lehrte, hilft die Spieltheorie, das Schwarzfahren besser zu verstehen. Es geht um die Abwägung von Kosten und Nutzen. Der Fahrgast entscheidet zwischen „Fahrkarte kaufen“ und „keine Fahrkarte kaufen“. Der Kontrolleur entscheidet zwischen „die Fahrgäste kontrollieren“ und „nicht kontrollieren“. Es entsteht eine Matrix mit vier Szenarien. Der schlimmste Fall für den Schwarzfahrer ist das Erwischtwerden, das mit Strafe, Blamage und Zeitverlust verbunden ist. Gibt es keine Kontrolle, hat der Schwarzfahrer einen finanziellen Vorteil. Hat der Fahrgast ein Ticket gekauft und wird nicht kontrolliert, könnte er sich über die Investition oder den fehlenden Mut, ein Risiko einzugehen, ärgern. Werden die Fahrgäste jedoch kontrolliert, ist der Kontrolleur möglicherweise unglücklich, nicht den richtigen Riecher gehabt zu haben. Der Fahrgast mit Ticket wird hingegen mit seiner Entscheidung zufrieden sein.
Die Soziologin Gabriele Beyer hat eine Masterarbeit zum Thema Schwarzfahren verfasst; sie ist 2013 unter dem Titel „Die Verhaltensintention ,Schwarzzufahren‘ veröffentlicht worden. Die Untersuchung ergab, dass es sich bei einer Kontrollwahrscheinlichkeit von weniger als 20 Prozent lohnt, ohne Ticket zu fahren. 20 Prozent Kontrollwahrscheinlichkeit bedeutet, dass man durchschnittlich bei jeder fünften Benutzung kontrolliert wird. Die 19 Jahre alte Auszubildende Diana T. berichtet: „Ich fahre täglich in Aachen zur Arbeit und wieder zurück. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich heute kontrolliert werden könnte, löse ich eine Fahrkarte. Meistens aber fahre ich schwarz, da manchmal drei Monate lang keine Kontrolleure in Sicht sind.“ Wenn man mit offenen Augen durch die Welt gehe, erkenne man schnell, wann Kontrolleure einstiegen, und könne rechtzeitig aussteigen. „Wenn man Pech hat, wird man eben einige Male erwischt, aber auf Dauer spart man viel Geld,“ meint die junge Frau. In 15 Monaten sei sie ein Mal im Bus und ein Mal im Zug erwischt worden. „Allerdings fahre ich nicht mehr mit dem Zug ohne Fahrkarte, da dort fast immer Kontrolleure sind.“ Mit dem Bus fährt sie neun bis zwölf Haltestellen und das bis zu drei Mal am Tag. Für Azubis koste eine Fahrkarte knapp 70 Euro im Monat, mit der sie nur von der Wohnung bis zu ihrer Arbeitsstelle fahren dürfen.
Die Persönlichkeit dürfte aber ebenfalls eine große Rolle spielen: „Selbst wenn ich nur eine Station fahren muss, kann ich nicht ohne eine Fahrkarte fahren. Ich würde mich sehr unwohl fühlen, und falls ich kontrolliert werde, wäre es mir sehr unangenehm, vor den ganzen anderen Fahrgästen auf frischer Tat ertappt zu werden“, sagt die 25 Jahre alte Lisa S.