Man kann vieles leihen – sogar Hühner. Zum Beispiel von Michael Lüft in Seligenstadt unter dem Motto „Rent a Huhn“. Durch einen Zufall ist der gelernte Schornsteinfegermeister und Landwirt auf die skurrile Idee gekommen. 2012 ist ein Großvater mit seinem sechsjährigen Enkel bei ihm vorbeigekommen, um seine Hühner anzuschauen. Der Junge wusste nicht, wie ein Ei entsteht. „Ich habe festgestellt, wie wenig Bezug die Kinder heute zu Lebensmitteln wie Eiern haben“, sagt Lüft. Er habe dem Jungen angeboten, ihm einige Hühner nach Hause zu bringen, damit er sehen könne, wie viel Arbeit mit dem Eierlegen verbunden sei. „Ich habe das nur zum Spaß gesagt und dachte mir nichts dabei.“ Schon am gleichen Abend habe aber der Vater des Jungen angerufen, um einen Termin für die Anlieferung der Hühner auszumachen.
Lüft begann 2013 mit 25 Hühnern und war nach eigenen Angaben der erste Betrieb dieser Art in Deutschland. Mittlerweile besitzt er 58 mobile Hühnerhäuser und rund 600 Hühner, von denen 300 bis 350 ständig auf Reisen sind. Da Hühner Herdentiere sind, vermietet er sie in Gruppen von fünf handzahmen Legehennen meist für zwei Wochen. Mieter sind vor allem Familien mit Kindern. Zwei Wochen inklusive Futter, Futterautomat, Wasserautomat, Einstreu, Zaun und eines selbstgebauten Hühnerhauses aus Holz kosten 130 Euro. Man kann die Hühner selbst abholen oder sie sich in ganz Deutschland liefern lassen. Die Anmeldung beim Veterinäramt und die Vorlage der Impfbescheinigung übernimmt in der Regel Lüft selbst.
Die Mieter brauchen ein Grundstück von rund 25 Quadratmetern mit unbefestigtem Untergrund. „Ich habe meine Hühner auch schon mal wieder mitgenommen, weil es nicht passte“, sagt Lüft. Manche der Kunden überlegen sogar, sich selbst Hühner anzuschaffen, und möchten das vorher testen. „Wieder andere möchten sich ein Stück Landleben in den eigenen Garten holen oder ein frischgelegtes Frühstücksei genießen“, erzählt Lüft.
Etwa die Hälfte seiner Kunden sind Institutionen wie Kitas, Grundschulen, Altenheime und Behinderteneinrichtungen. Schon zum zweiten Mal hat sich die Kindertageseinrichtung St. Laurentius in Mainz Hühner von Lüft ausgeliehen. Die Kita hatte von einem Geflügelverein befruchtete Eier und eine Brutstation geliehen bekommen. Am Ende des Projekts bemerkte der Leiter, dass die Kinder noch viele Fragen hatten. Zum Beispiel, wie ein Ei entsteht und ausgebrütet wird. Deshalb habe man Hühner von Lüft gemietet. „Die Kinder haben gelernt, dass ein Ei nicht im Supermarkt hergestellt wird“, sagt Kita-Leiter Stefan Metzler. Die Kinder übernahmen Verantwortung für die Hühner und sind sogar freiwillig früher in der Kita erschienen, um die Hühner morgens rauszulassen und sie zu füttern.
Auch das Altenheim im Sozialzentrum Spatzennest in Eschborn hat schon mehrfach Hühner gemietet. Die Leiterin Irina Schülli erklärt, dass ihre Einrichtung Elemente aus der tiergestützten Therapie einsetze und im Rahmen dieser Therapie mit vielen Tieren, auch mit Hühnern, arbeite, da sie positiv auf das Erleben und Verhalten der Senioren wirkten. Im Heim seien Generationen, die früher selbst Hühner hatten und bei denen Erinnerungen hochkämen, wenn sie die Hühner beobachteten. „Die Senioren schauen nicht mehr ins Leere, sie können die Hühner beobachten, sie füttern. Das belebt, schafft Gesprächsstoff. Die Hühner waren zahm, kamen auf den Schoß, ließen sich streicheln“, erzählt Schülli. Gerade auch Demente freuten sich über den direkten Kontakt zu den Tieren.
Die Nachfrage nach den Miethühnern ist Lüft zufolge zuweilen so hoch, dass man vier bis sechs Wochen vorher buchen sollte. „Zu Ostern bin ich komplett ausgebucht.“ Wegen der hohen Nachfrage plant er, seinen Bestand von 600 Hühnern auf 1200 aufzustocken. Lüft ist nach eigenen Angaben Marktführer. „Rent a Huhn“ macht rund 50 Prozent seines Umsatzes aus. Die anderen 50 Prozent verdient er mit seinem Hofladen. Der Umsatz liege im mittleren fünfstelligen Bereich.
Mehrere andere Anbieter haben sich laut Lüft „das Konzept vom Stil her abgeguckt und betreiben es im Kleinen“, zum Beispiel „Huhn on tour“ in Lünen, „Miete ein Huhn“ in Achim bei Bremen, „Moni Miet Gaggala“ in Erlangen und „Rent a chicken“ in Moers. Für den Trendforscher Peter Wippermann liegt die neue Liebe zum Huhn in Zeiten von Landlust und Urban Gardening voll im Trend, schließlich mieteten Stadtbewohner auch Äcker, um Gemüse anzubauen. Da seien eigene Eier „die logische Konsequenz“.
Gabi Broer aus Lünen bietet „Huhn on tour“ seit 2016 an. Inspiriert wurde sie nach eigenen Angaben durch einen Fernsehbericht über Michael Lüft. „Ich musste mich ein Jahr vorbereiten, bevor ich das Konzept selbst anbieten konnte.“ Zurzeit vermietet sie acht Hühnerteams mit jeweils vier Hennen zu 75 Euro die Woche an Privatpersonen und Institutionen. Der Kontakt mit den Hühnern bringe Abwechslung in das Leben von Senioren und Behinderten. „Die Leute gehen wegen der Hühner wieder vor die Tür, um sich zu unterhalten“, erzählt Broer.
Das Seniorenheim Margarethenhöhe in Essen lieh Hühner von Broer. „Weil den Senioren, auch den dementen, der Kontakt mit den Hühnern so gut gefallen hat, wurde das Projekt kontinuierlich verlängert, insgesamt auf drei Monate“, berichtet Broer. Die Abholung gestalteten die älteren Leuten feierlich. „Die Leute standen mit Sekt und Kanapees da und haben gesungen.“ Hühner hätten vieles von einem Haustier. „Sie sind zutraulich und auch beruhigend. Es ist sehr entspannend, die Hühner auf dem Rasen zu beobachten, weiches Gefieder zu streicheln.“ Jedes Hühner-Team hat ein Hühnerhaus. „Ich suche aus meinen 250 Hühnern die Vierergruppe so aus, dass sie gut zusammenpassen und keine Zicke dabei ist. Zusammen verreisen ist nur in harmonischen Konstellationen möglich“, erläutert Broer.
Für den Tierarzt Ralf Unna, Vizepräsident des Landestierschutzverbandes Nordrhein-Westfalen, ist der Verleihservice „grober Unfug“. „Hühner sind extrem ortsgebunden und keine reisenden Tiere.“ Carolin Ritterbex, Referentin beim Deutschen Tierschutzbund, sagt: „Hühner sind sehr standortbezogen und haben ein stark ausgeprägtes Territorialverhalten, und es bedeutet jedes Mal Stress für die Tiere, wenn sie sich nach kurzer Zeit wieder an eine neue Umgebung gewöhnen müssen.“
Broer und Lüft sehen das anders. So weist Broer darauf hin, dass der Hühnerstall mit den Hühnern mitreise und immer derselbe sei. Das sei wie ein Zuhause. „Die Hühner wissen ja nicht, ob der Stall in Münster oder in Lünen steht.“ Nur der Garten wechsele, und das sei für die von Natur aus neugierigen Hühner positiv. Wenn Lüft Hühner für einen Kunden braucht, stellt er nach eigenen Angaben die offene Transportbox in den Stall. „Ruckzuck springen die Hennen rein, meistens viel mehr, als ich brauche.“ Der Tierschutzverein in Gießen habe „Rent a Huhn“ am Anfang kritisch gesehen. „Mittlerweile konnte ich den Tierschutzverein von dem Konzept überzeugen, so dass die mich sogar auf ihrer Internetseite verlinkt haben“, sagt Lüft.
Ralf-Wigand Usbeck, der in der Nähe von Bremen seit 2016 acht Hühnergruppen zu je fünf Hühnern in Nebentätigkeit vermietet, musste sich nach eigenen Angaben gegen den Vorwurf wehren, er degradiere Tiere zum Objekt. Er begegnet der Kritik mit dem Hinweis, dass seine Hühner von den Mietern verwöhnt würden und es ihnen im Vergleich zu den Hennen in den Legebatterien blendend gehe.
Für die, die sich nicht vorstellen können, Hühner im eigenen Garten zu halten, die aber den Wunsch haben, frische Eier auf den Tisch zu bekommen, gibt es Hühnerpatenschaften. Sie bietet zum Beispiel das Unternehmen „Der Kölner Bio-Bauer“ an. Die Einsteigervariante, die maximal 10 Eier für ein Jahr Patenschaft beinhaltet, kostet knapp 20 Euro, die Variante „de luxe“ mit 100 Eiern rund 60 Euro. Hühnerpatenschaften werden auch zunehmend zu Anlässen wie Hochzeiten oder Taufen verschenkt. Die Preise decken nach eigenen Angaben die Kosten für das Ökofutter. „Gerade Veganer und Tierschützer nehmen das Angebot mit gutem Gewissen an“, sagt Jürgen Roußelli, Betreiber von „Der Kölner Bio-Bauer“. Dank der Patenschaften wird ein Umsatz in Höhe von höchstens 2400 Euro erzielt.
Auch die Familie Püllen vom Herrmannshof in Nörvenich bietet ein „Hühnerleasing“ an. Man hat 6500 Legehennen und 411 Patenschaften vermittelt. Für 35 Euro im Jahr erhalten die Kunden 120 Eier. Nach Ablauf des Jahres ist es möglich, das Huhn als Schlachthuhn zu bekommen. Der Vertrag enthält auch die Option, sein Huhn gegen eine Kost- und Logispauschale von 15 Euro zu verrenten. Die Rentnerhennen können dann im Freigehege ihr Leben bis zum natürlichen Ende genießen. „Natürlich ist die ganze Idee auch ein Vermarktungsgag“, gibt Anneliese Püllen zu, „aber ein sinnvoller.“